Die Pianistin aus der Steppe
08.03.2023 Fricktal, Unteres Fricktal, Kaiseraugst, Musik, Rheinfelden, PersönlichMusik führte Assel Abilseitova von Kasachstan in die Welt
Seit zwei Jahren ist Assel Abilseitova Kirchenmusikerin in der reformierten Kirchgemeinde Region Rheinfelden. Die international konzertierende Pianistin bringt musikalischen Glanz in die Kirchenräume. Und Klänge, die von der Weite ...
Musik führte Assel Abilseitova von Kasachstan in die Welt
Seit zwei Jahren ist Assel Abilseitova Kirchenmusikerin in der reformierten Kirchgemeinde Region Rheinfelden. Die international konzertierende Pianistin bringt musikalischen Glanz in die Kirchenräume. Und Klänge, die von der Weite und Tiefe ihrer Herkunft zeugen.
Andreas Fischer *
Da, wo sie aufgewachsen ist, holte man das Wasser direkt von der Quelle. Es gab Kühe, Schafe, Hühner, Pferde. «Die Steppe war gross, das Dorf war klein», erzählt Assel Abilseitova. Die Kindheit sei mit vielen wunderbaren Erinnerungen verbunden, an ein Leben mitten in der Natur, an frisches Essen, an Milch und Butter und Kymys, das kasachische Nationalgetränk, eine Art gegorene Stutenmilch.
Bis sie fünf war, lebte Assel Abilseitova gemeinsam mit sechs Cousinen bei ihren Grosseltern. Die Eltern waren jung, als sie zur Welt kam. Sie studierten in einer Stadt, sechs Stunden Busfahrt vom Heimatdorf entfernt. «Dass ich bei den Grosseltern aufwuchs, ist in Kasachstan nichts Aussergewöhnliches», sagt Assel Abilseitova. Auch die Ahnen gehören zur grossen Familie. Jeweils am Freitag versammle man sich, spreche ein Gebet, tauche Brot in Öl und gedenke der Ahnen. In gewissem Sinn, sagt die junge, weltoffen und urban wirkende Frau, sei sie eine Patriotin. «Kasachstan ist der Ort, wo ich meine Energie her beziehe. Wenn ich über Kasachstan fliege, spüre ich diese Energie, hier ist der Ort meiner Ahnen.»
Bollywood, MPB, Dombra
Ob es dort, in der Steppe, auch ein Klavier gegeben habe, frage ich. «Nein», antwortet Assel Abilseitova, «aber ich habe Musik gehört». Was für Musik? «Bollywood und MPB, also Musica Brasileira Popular», sagt sie lachend. «Und wenn Besucher kamen, wurde auch Dombra gespielt, ein in Zentralasien weit verbreitetes Zupfinstrument.» Und ja, sie habe schon auch früh einen Bezug zur europäischen Musik entwickelt. Ihr Grossvater war ein Experte für die Zucht von neuen Schafsorten, deshalb konnte er schon zu Sowjetzeiten in den Westen reisen. «Dort kam er in Kontakt mit klassischer Musik, er besass diverse Bücher über Komponisten und war ein grosser Fan von Chopin.» Assel Abilseitovas Mutter war besonders von Beethoven angetan. Sie träumte davon, Opernsängerin zu werden, doch die Eltern rieten ab, das sei kein guter Beruf für eine Frau in Kasachstan. Umso mehr förderte sie dann die Musikkarriere ihrer Tochter.
In den ersten Stunden befasste sich Assel Abilseitova mit Beethovens «Für Elise». «Das war meine erste musikalische Erfahrung.» Dann erlernte sie ein Jahr lang – «sehr langsam, sehr gründlich» – die Basics bei Nina Bossina, einer älteren, warmherzigen Frau. Als Noten, Fingersätze, Handhaltung stimmten, wechselte sie zur Tochter von Nina, Irina Bossina, die sie mit grosser Hingabe förderte und die sie bis heute als ihre wichtigste Lehrerin bezeichnet. «Immer nach dem Unterricht durften wir bei ihr zuhause weiterüben, stundenlang, die Lehrerin kochte inzwischen für mich und die anderen Studentinnen.»
Royal Academy of Music
Schon bald – Assel Abilseitova war nun elf – nahm sie erstmals an einem Wettbewerb teil, in Italien. Dass sie den dritten Platz erreichte, war nicht nur ein grosser Erfolg, sondern auch eine grosse Erleichterung. Die Eltern hatten auf den Kauf einer Wohnung verzichtet, um ihr die Reise zu finanzieren. Der Druck war enorm. In den kommenden Jahren gab sie Konzerte in verschiedenen Städten, als Fünfzehnjährige trat sie erstmals in Begleitung eines Orchesters auf, spielte das 1. Klavierkonzert von Franz Liszt. Mit sechzehn erfolgte der Übertritt in ein Kunstkollegium, mit zwanzig erhielt sie ein präsidiales Stipendium, um an der renommierten Royal Academy of Music in London zu studieren.
Der Start war hart, «ich war», erzählt Assel Abilseitova, «zunächst untergebracht in einem billigen Hotel, wo zwölf Leute in einem Zimmer hausten, ich sprach noch nicht fliessend englisch, das Studium war sehr akademisch, ich war umgeben von Stars, die auf Weltniveau spielten, zum Lehrer gab es nicht die persönliche Beziehung, die ich zu Irina Bossina hatte.» Doch Assel Abilseitova, die über eine enorme Willenskraft verfügt, ging ihren Weg.
Nach Abschluss der Studien in England zog sie weiter nach Basel, wo sie von 2014 bis 2018 an der Musikakademie studierte und den Master sowohl in Performance als auch in Pädagogik erlangt hat.
Sich in der weiten Welt gesehen
Sie habe, fährt Assel Abilseitova fort, schon als Kind gewusst, dass sie einst fern von zuhause leben würde. Einmal habe sie draussen in der Steppe in den Sternenhimmel geschaut und sich selber in der weiten Welt gesehen. Sie sei immer offen für das, was das Leben bringe.
Zum Beispiel für das Project Agora. Die Idee entstand zu Coronazeiten bei einer Flasche Wein zusammen mit einer Freundin. Man philosophierte über den neumodischen Fachbegriff «Post-Genre» und beschloss, ein entsprechendes Festival ins Leben zu rufen. Einen Monat lang sinnierte man über den Namen, «Genre» klang zu abgehoben, «Festival» zu klassisch, schliesslich kam man auf Project Agora, Agora, das griechische Wort für Markt, steht für das Zusammenkommen verschiedener Stilrichtungen, Project für das Unabgeschlossene. 2022 fand es erstmals statt. Dieses Jahr gibt es eine Zweitauflage.
Im Frühling letzten Jahres wurde sie von einem Dirigenten in Kasachstan angefragt, ob sie als Solistin mit seinem Orchester das 3. Klavierkonzert von Sergei Rachmaninoff aufführen wolle. «Das Werk», sagt Assel Abilseitova, «ist nicht nur technisch, sondern auch emotional herausfordernd. Es hat eine grosse seelische Tiefe. Man muss sich selber hineingeben, mit Haut und Haar, in jede Note.»
* Andreas Fischer ist Pfarrer in der reformierten Kirchgemeinde Region Rheinfelden.
Konzert auf zwei Flügeln
Am Samstag, 11. März um 18.15 Uhr bringt Assel Abilseitova das 3. Klavierkonzert op. 30 in d-Moll des russischen Komponisten Sergei Rachmaninoff (1873-1943) im Kirchgemeindehaus Kaiseraugst zur Aufführung. Den Orchesterpart spielt der Pianist Rani Orenstein. Der Eintritt ist frei.