«Wir können probieren, dem Leben einen Sinn zu geben»
07.05.2015 Aargau, Unteres Fricktal, Zuzgen, Brennpunkt, Nordwestschweiz, Gesundheit, PersönlichUnterhält man sich mit Hansruedi Stoll, kommt man schnell auf den Tod zu sprechen. Stoll hat ihn tausendfach gesehen. «Das Leben hat einen Anfang und ein Ende. Das ist gut so. Ich bin überzeugt, dass es kein Jenseits gibt. Das macht mir das Leben sehr viel leichter», erklärt der 63-Jährige. Als Leiter der Pflege an der Klinik für Onkologie des Universitätsspitals Basel und als Gründer und Mitarbeiter der Onko-Spitex hat er während Jahrzehnten Krebspatienten begleitet – oftmals auch auf ihrem letzten Weg.
«Keinen Sinn»
«Die Arbeit mit sterbenden Krebspatienten hat mich gelehrt, dass das Leben keinen Sinn hat. Der Mensch kann aber probieren, dem Leben einen Sinn zu geben», sagt er mit Überzeugung. Wenn man die Diagnose Krebs erhalte, gebe es kein Leben wie zuvor. «Die Betroffenen müssen sich damit auseinandersetzen, ob sie wollen oder nicht. Sie auf diesem Weg zu begleiten, ist spannend und befriedigend.»
Dass er Pfleger wurde und in diesem Bereich Karriere machte, war eher Zufall. Eigentlich wollte der junge Hansruedi Stoll, der in Zürich und Basel aufgewachsen ist, Theologie studieren. Er rasselte aber zwei Mal durch die Matura-Prüfung; vor allem wegen des Fachs Englisch. Dass er viele Jahre später seinen Master in Krebs-Pflege auf Englisch machen würde, war damals nicht absehbar. Seine Schwester, die in der Psychiatrie-Pflege tätig war, brachte ihn auf die Idee, es in diesem Bereich zu probieren. Er arbeitete ein Jahr als Hilfspfleger in der Psychiatrie und absolvierte anschliessend die Lehre als Krankenpfleger. «Ich bin in der Pflege hängen geblieben», sagt er mit einem Schmunzeln.
«Die Krankheit hat niemand verdient»
Seit 1980 arbeitet er ausschliesslich mit Krebspatienten. «Sie haben die Krankheit nicht verdient. Viele Betroffene fragen sich: warum ich? Darauf gibt es keine Antwort. Es ist Zufall – und mit zunehmendem Alter steigt das Krebsrisiko. Es kann jeden und jede treffen.» Als Pfleger könne man sich stark einbringen und für die Patienten einen Unterschied machen. «Die Krankheit hat eine grosse Dynamik. Innerhalb von wenigen Wochen oder Monaten weiss man, ob der Patient wieder gesund wird oder stirbt. Dazwischen gibt es nichts.»
Hansruedi Stoll hat in den letzten Jahren nie nur an einem Ort gearbeitet. «Ich hatte immer mindestens zwei oder mehr Arbeitgeber. Sonst hätte ich Platzangst bekommen. Ich brauche meine Freiheit.» In den 1980er Jahren rief er die Onko-Spitex in Basel ins Leben. «80 Prozent der Schweizer wollen Zuhause sterben, aber nur 20 Prozent schaffen es.» Die Onko-Spitex pflegt die Krebspatienten in den letzten Wochen in ihren eigenen vier Wänden.
In der Behandlung und Pflege von Krebspatienten hat sich in den letzten Jahrzehnten einiges geändert. «Bei der Chemotherapie sind die Nebenwirkungen besser kontrollierbar. Es ist noch immer kein Zuckerschlecken, doch weniger schlimm als früher.» Geändert hat sich auch die Wahrnehmung der Angehörigen: «Sie werden heute auch als Leidende und als Leistungserbringer gesehen», so Stoll. Er begrüsst es, dass die Akademisierung in der Pflege Einzug hält. «Dadurch entwickelt sich die Pflege weg von einer reinen Hilfstätigkeit hin zu einem eigenständigen Beruf. Heute muss ein gut ausgebildeter Pfleger nicht für alles einen Doktor fragen.»
Seit Januar 2015 ist Hansruedi Stoll als Leiter der Pflege in der Onkologie-Klinik pensioniert. Er arbeitet aber weiterhin als Dozent zum Thema «Klinisches Assessment» am Institut für Pflegewissenschaft der Uni Basel. Daneben ist er Mitglied der Ethikkommission Nordwest- und Zentralschweiz, welche Forschungsprojekte am Menschen bewilligen muss. Hansruedi Stoll engagiert sich überdies als Mitglied des Spitex-Fördervereins Fricktal. «Die Spitex liegt mir am Herzen», so Stoll. Deshalb beteiligt er sich auch an einem Projekt zum Aufbau von Spitex-Diensten in Bosnien, das vom Eidgenössischen Departement für Entwicklungszusammenarbeit, dem Basler Institut für Pflegewissenschaften und dem Unispital Genf getragen wird. Stoll bildet in Bosnien Pflegende aus und zeigt ihnen, wie man Hausbesuche absolviert.
Daneben geniesst es der Vater von drei erwachsenen Kindern, mehr Zeit für sich und seine Frau zu haben. «Es ist fantastisch, pensioniert zu sein. Ich bin unendlich dankbar, dass ich 35 Jahre in der Onkologie-Pflege arbeiten und einiges bewegen konnte. Jetzt freue ich mich, dass ich mehr Zeit für die Dinge habe, die in den letzten Jahrzehnten zu kurz kamen.»
«Der Tod ist eine Gewissheit»
Dem eigenen Tod schaut er mit Gelassenheit entgegen. «Das Leben ist zerbrechlich und unberechenbar, der Tod eine Gewissheit, auf die man sich vorbereiten kann. Ich habe eine Patientenverfügung und eine Beerdigungs-Verfügung. Soweit man den Tod planen kann, habe ich das getan.» Für ihn ist klar, dass er gegebenenfalls die Dienste einer Sterbehilfe-Organisation in Anspruch nehmen würde. «Aber natürlich nicht gegen den Willen meiner Angehörigen.»