«Körperlich anstrengend, seelisch eine absolute Bereicherung»
30.08.2023 Persönlich, Gesundheit, RheinfeldenVor zehn Jahren reiste Dr. med. Dirk Thümmler, Teamleiter Fuss- und Sprunggelenk im Zentrum für Bewegung am Gesundheitszentrum Fricktal, erstmals nach Indien. Nicht um dort Urlaub zu machen, sondern um dort Kinder von mittellosen Eltern zu operieren. Erst kürzlich ist er von einem weiteren Hilfseinsatz aus Indien zurückgekommen.
Susanne Hörth
«Es ist unglaublich. Die Kinder ertragen es, ohne sich über die Schmerzen zu beklagen. Sie sind so tapfer und gleichzeitig auch so dankbar.» Dirk Thümmlers Stimme ist voller Bewunderung. Gleichzeitig bricht immer wieder die Begeisterung bei dem Arzt durch, wenn er von seinen Einsätzen in Indien berichtet. Hilfseinsätze, in denen er gemeinsam mit dem befreundeten Berufskollegen Ernst Orthner und einem ausgebildeten Fachteam Kindern durch chirurgische Eingriffe das Gehen ermöglicht. Dadurch werden für die behandelten Mädchen und Buben viele Steine auf dem Weg in ein selbstbestimmtes Leben beseitigt.
Dirk Thümmler geht aktuell nach einer Knieoperation selbst an den Krücken. «Ich kann jetzt noch mehr nachvollziehen, welche Belastungen und Schmerzen mit solchen Eingriffen einhergehen». Kurz vor dieser Operation ist er nach einem weiteren, zweiwöchigen Einsatz in Indien nach Hause zurückgekehrt. «Ich habe für den Aufenthalt in Indien Ferien genommen und bin froh, dass es meine Familie, meine Frau und meine vier Kinder akzeptieren und unterstützen.» Es sind immer auch Ferien, die er eigentlich als Erholung neben seiner Arbeit als Fuss- und Unfallchirurg im Zentrum für Bewegung des GZF bräuchte. Hier arbeitet er vier Tage die Woche, einen Tag trifft man den Fachspezialisten zudem an seinem Wohnort Bad Säckingen in einem Orthopädischen Zentrum an.
In den knapp zwei Wochen hatte er zuerst im Norden von Indien, in einem Krankenhaus in Srinagar, später dann in Chennai insgesamt 17 Kinder operiert sowie in den Sprechstunden 60 Kinder behandelt. «Man kennt unser Projekt unterdessen sehr gut. In Srinagar musste das Spital wegen uns sogar einen Security-Dienst organisieren. Die vielen mittellosen Eltern, die mit ihren Kindern für eine Behandlung zu uns kommen wollten, drückten fast die Spitaltüren ein.» Thümmler ist sich bewusst, dass nie allen Mädchen und Buben geholfen werden kann. Er orientiert sich deshalb an jenen Kindern, denen der Verein «Kinderfüsse brauchen Hilfe» eine bessere Zukunft ermöglicht hat. Bereits seit 2013 engagiert er sich bei diesem Verein, stellt diesem einen Teil seiner Freizeit und sein ganzes chirurgisches Können bei den medizinischen Hilfseinsätzen in Indien zur Verfügung.
Start vor zehn Jahren
Wie ist es dazu gekommen? Dirk Thümmler holt etwas aus, erzählt vom Spital in Bad Säckingen, in welchem er von 1997 bis zu dessen Schliessung gearbeitet hatte. Zuvor war er auch an der Universitätsklinik Basel tätig. «Die Fusschirurgie wurde lange Zeit wie ein Stiefkind behandelt. Es besserte sich erst ab den 1990er-Jahren», leitet Thümmler zu dieser Spezialisierung über, die er während zweier Jahre beim österreichischen Arzt Ernst Orthner von Grund auf erlernte. Von Orthner erfuhr er zudem vom österreichischen Verein «Kinderfüsse brauchen Hilfe». Unterstützt wird der Verein von der indischen Nichtregierungsorganisation ISHWAR. Diese Organisation sucht in Indien die Kinder für die Operationen aus, betreut sie nach und begleitet sie bis zum Wachstumsende unter anderem mit dem Anpassen von Schienen und Prothesen.
Auch nach der achten Indien-Reise, nach intensiven, bis zu 15-stündigen Untersuchungs- und Operationstagen ist Dirk Thümmler Feuer und Flamme für dieses Schaffen. Er erzählt von den strahlenden Kinderaugen, von Mädchen und Buben, die nach teils langen Leidenswegen auf geheilten Füssen, oder wo nötig mit Hilfe von Prothesen, gehen können. Das nach den Operationen erleben zu können, bezeichnet er als einen gesunden Virus, der ihn befallen hat und der ihn nicht mehr loslässt.
Operiert werden Klumpfüsse, Verbrennungen, Fehlbildungen, Geburtsgebrechen an Füssen und vieles mehr. Die Frage, ob in Indien die Kliniken nicht unserem Standard entsprechen, verneint Dirk Thümmler. Die Ausstattungen in den Krankenhäusern sei gut, entspreche oft unserem Niveau. Die Ärzte seien ebenfalls gut ausgebildet. Der Grund für die vielen unbehandelten Kinderfüsse liegt in den Summen, welche die Familien trotz öffentlich zugängl ichem Gesu ndheitswesen wegen erforderlicher Selbstbeteiligung bezahlen müssen. «Weil sich die ärmere Bevölkerung das nicht leisten kann, finden keine Behandlungen statt.» Was wiederum auch einen Schulbesuch verunmöglicht und oft auch für Ausgrenzungen der Mädchen und Buben sorgt.» Dirk Thümmler berichtet von dem sechsjährigen Mädchen, dem von Geburt an einseitig die Hälfte der Knochen im Unterschenkel und Fuss fehlten, weswegen der Unterschenkel viel zu kurz und der Fuss am gleichen Bein komplett verformt war. Aufrechtes Gehen war für das Kind nicht möglich, stattdessen musste es das gesunde Bein stark anwinkeln, um sich so dem verdrehten anderen Bein anzupassen. «Wir mussten ihr den Unterschenkel abnehmen.» Thümmler hält einen Moment inne, um dann weiter zu reden: «Das Mädchen hat nie geweint, nicht geklagt. Als wir den Verband wechselten, schaute es interessiert zu, betrachtete den Stumpf.» Auf diesen wird nach der Verheilung eine Prothese angepasst. «Die Kleine kann nun bald zu ihren Altersgenossen in den Kindergarten gehen.» Jedes Mal, wenn Dirk Thümmler das Wort «gehen» ausspricht, strahlt der 53-Jährige. «Als ich 2013 erstmals mitmachte, tat ich es auch im Glauben an ein Abenteuer, gleichzeitig auch im Bewusstsein, anderen etwas Gutes zu tun.» Und heute? «Ich bin mir längst bewusst, dass es auch mir sehr viel bringt.» Nebst dem Menschlichen sei es stets ein Lernprozess. «Wir erfahren beispielsweise auch, was passiert, wenn eine Fehlbildung zehn Jahre nicht behandelt wurde. Dadurch verstehen wir die Anatomie noch besser.»
Auf Spenden angewiesen
Das Team von «Kinderfüsse brauchen Hilfe» ist auf Spenden angewiesen. Chirurgische Instrumente und Implantate oder Fadenmaterial werden oft auch von Kliniken gespendet. Mit den Geldspenden werden die einheimischen Anästhesisten sowie die Pflegenden in Indien bezahlt. Dirk Thümmler und Ernst Orthner arbeiten unentgeltlich. Zu den Kosten einer Operation nennt Thümmler die fast läppisch anmutende Summe zwischen 130 und 160 Franken. Bisher konnten durch die Hilfe des Vereins rund 500 Kinder operiert werden. Es bleibt dabei nicht einfach bei einer Operation. «Die Nachbetreuung ist genauso wichtig. Ohne ISHWAR würde das nicht funktionieren. Wir haben glücklicherweise keine wesentlichen Komplikationen erlebt.»
Ja, selbstverständlich werde er nächstes Jahr wieder nach Indien reisen und Kinderfüsse operieren. Jedem Kind, dem er dadurch ein selbstständiges Gehen ermöglicht, ist für ihn ein Geschenk.