Musik ist sein Lebensinhalt, daraus schöpft er täglich Kraft

  06.08.2017 Laufenburg, Persönlich, Sulz, Oberes Fricktal, Porträt

Von Dieter Deiss

Regelmässig fährt morgens um acht Uhr beim Volg in Sulz ein schwarzer Mercedes vor. Diesem entsteigt Xaver Wächter, der dort sein Postfach leert. Jüngere Leute wissen wohl kaum, wer dieser Mann ist, der hier pünktlich wie ein Uhrwerk seine Post holt. Die Leute, denen er begegnet, grüsst er mit einem freundlichen Lächeln. Gerne ist er aber auch zu einem kurzen Schwatz bereit und nicht selten hat er einen humorvollen Spruch auf Lager. Für die mittlere und insbesondere ältere Generation ist dieser fröhliche Herr kein Unbekannter. Hofstetter-Xaveri wird er im Dorf genannt,

 

«Echo vom Schynberg»

Im Fricktal kannte man Xaver früher als begnadeten Musiker. Während dreissig Jahren, von 1941 bis 1971, bildete er zusammen mit drei Kollegen die Kapelle «Echo vom Schynberg», bei der Xaver so etwas wie der Teammanager war, der die Engagements organisierte und die Verträge abschloss. «Dies war eine herrliche Zeit», erzählt der heute 95-Jährige Musiker rückblickend. In Erinnerung daran hängen in der Stube zwei grosse Fotografien der damaligen Kapelle. Darauf sieht man die vier jungen Musiker in weissen Hemden und einem Sennenchutteli.

 

Eine Musikausbildung hatte Xaver Wächter allerdings nie genossen. Noch während der Schulzeit erhielt er von einer Schwester eine Handharmonika geschenkt. Zudem gab ihm diese ein paar Franken, damit er Musikstunden nehmen könne. Dies tat er dann auch. «Nach den ersten Stunden merkte ich bald, dass der Lehrer keine Ahnung hatte vom Harmonika-Spiel. Da gab ich das Unterfangen auf», erzählt er. Das Spielen auf dem geschenkten Instrument habe er sich dann durch fleissiges Üben und Ausprobieren selber beigebracht.

 

Entstanden ist übrigens das «Echo vom Schynberg» aus einer zufälligen Begegnung. Im Restaurant «Adler» in Kaisten habe ein Mann auf seiner Klarinette gespielt. Es war Emil Kuprecht. Er habe diesen nach der Stimmung seines Instrumentes gefragt. Es war eine B-Klarinette. «Ich habe ein B-Es-Örgeli bei mir», meinte er zu Kuprecht. Dieser kurz angebunden: «Also hole es!» Beide spielten dann zur Freude der Gäste während des ganzen Abends.

 

Das Quartett reiste anfänglich mit der Bahn, häufig auch zu Fuss, die Instrumente auf dem Buckel, an auswärtige Engagements. Später folgte dann das Motorrad, das für den jungen Xaver eine wichtige Rolle spielte. So wurde darauf der Kontrabass transportiert. Nicht selten führte er auch seinen Kollegen, der Velorennen bestritt, an ein Rennen. Sein Kollege sass dann mit dem geschulterten Fahrrad auf dem Sozius. Die wohl kurioseste Fahrt hätte es im Anschluss an ein feuchtfröhliches Treffen von zehn jungen Sulzer Burschen im Restaurant Heuberg ob Kaisten gegeben. Auf zwei Motorrädern, jedes mit fünf Burschen besetzt, sei man zurück nach Sulz gefahren.

 

 

Der 2. Weltkrieg

Wegen des ausgebrochenen 2. Weltkriegs musste Xaver Wächter bereits im Alter von 19 Jahren in die Rekrutenschule einrücken, die damals insgesamt 30 Wochen dauerte, wovon 17 Wochen Rekrutenschule und anschliessend 13 Wochen Dienst im Rekrutenregiment. Man habe ihnen damals gesagt, dass sie im Ernstfall sofort an die Grenze verlegt werden. «Wir wären zum Kanonenfutter für die Deutschen geworden», meint der ehemalige Grenadier. Bis zum Kriegsende von 1945 leistete Xaver Wächter dann praktisch ununterbrochen Aktivdienst in der Region Laufenburg/Kaisten.

 

Das Musikantenleben fing erst so richtig nach den Kriegszeiten an. Schon bald merkte das Quartett, dass ein Bass fehlte. Xaver kaufte sich deshalb eine Bassgeige und erlernte auch hier ganz selbständig das Spiel auf dem Saiteninstrument. Später kam noch das Klavier hinzu, dessen Spiel er wiederum selbständig erarbeitete. «Ich hatte ganz offensichtlich das Gehör dazu», erzählt Wächter. «Ich höre die Akkorde und merke, wenn ein Stück von Dur in Moll wechselt.» Eigentliche Proben gab es im Quartett nicht und Noten kannte keiner von den vier Spielern.

 

Einen unvergesslichen Auslandeinsatz hatte Xaver Wächter im Hotel «Maria Theresia» in Innsbruck, wo er an drei Abenden mit dem bekannten Klarinettisten Jost Ribary Senior auftrat, weil dessen Bassgeiger erkrankt war. Ribary kannte er übrigens von seinen regelmässigen Besuchen im Zürcher Restaurant «Concordia», wo dieser jeweils spielte. Musste mal der Mann an der Bassgeige austreten, so rief man ihn an das Instrument.

 

 

Vom Hilfsarbeiter zum Chef

Keine guten Erinnerungen hat Xaver Wächter an seine Jugendzeit. Er wuchs ganz in der Nähe seines heutigen Hauses, im Hofstetten, als eines von zwölf Kindern auf. Seine Eltern hatten zwei Kühe und zwei Schweine. Dies reichte nicht um die hungrigen Mäuler zu stopfen. Xaver musste deshalb seine gesamte Schulzeit als Verdingbub bei anderen Familien verbringen. «Es war eine harte Zeit», erinnert er sich. «Bei einer Familie bekam ich selten genug zu essen, zumeist musste ich noch hungrig vom Tisch weg», erzählt er. Kam er von der Schule nach Hause und hätte gerne ein Stück Brot gehabt, so musste er sich dieses damit verdienen, indem er auf Stoppelfeldern einen Korb voll Ähren einsammeln musste. Manchmal sei der Hunger so gross gewesen, dass er verstohlen in den Keller schlich, wo auf Gestellten das Brot lagerte. Da habe er ein Stück abgerissen und dieses heimlich verzehrt.

 

Nach der obligatorischen Schulzeit kam er wieder zu seinen Eltern. Er trat eine Stelle bei der Kera in Laufenburg an. Zu Fuss marschierte er über die Egghalde und den Wald nach Laufenburg. Später bekam er ein altes, rostiges Fahrrad. Um Geld zu sparen, durfte er jetzt nicht mehr auswärts essen und musste während der kurzen Mittagspause nach Hause fahren. Eine Lehre kam für den jungen Xaver überhaupt nicht in Frage. Von den zwölf Kindern der Familie durfte lediglich ein Knabe eine kaufmännische Lehre absolvieren. Rückblickend gibt sich Xaver Wächter versöhnlich: «Es war nicht alles negativ. Ich lernte zu entbehren und zu verzichten, vor allem lernte ich aber zu arbeiten.»

 

Aus gesundheitlichen Gründen musste er seine Stelle bei der Kera aufgeben. Er suchte und fand eine Stelle bei der damaligen BBC in Baden. Zweimal wöchentlich besuchte er während rund zwei Jahren eine Abendschule, bevor er sich erfolgreich als Chef der internen Post von BBC bewarb. 28 Jahre lang betreute er diese Aufgabe. Mit fünf Leuten fing er an, 30 Mitarbeitende waren es bei seiner Pensionierung im Jahr 1987.

 

Es wird still

Heute ist es um den 95-Jährigen ruhig geworden. Zu ruhig, meint er: «Alle meine Freunde, Verwandten und Bekannten sind gestorben. Dies schmerzt.» Oft komme denn auch der Gedanke, weshalb jener gehen musste, und nicht ich. Der Tod beschäftige ihn, Angst vor dem Sterben habe er keine, lediglich die Frage, was nach dem Tod komme, stelle er sich hie und da. Er sei übrigens kein Kirchengänger, erzählt er, obwohl er an eine höhere Macht glaube. So könne er auf einem Waldspaziergang bewundernd eine schöne Blume betrachten und dankbar demjenigen sein, der dies geschaffen habe.

 

Zum Abschluss unseres Besuches setzt sich Xaver Wächter an das E-Piano in seiner Stube. Ein Textblatt liegt da, Xaver greift in die Tasten und fängt an zu singen:

«Ein armes Kind verwahrlost zieht es aus,

kehrt von der Fremd zurück wohl in sein Elternhaus.

Und leise klopft es an das Fensterlein,

mach mir doch auf, mein liebes Mütterlein.»

 

Fünf Strophen hat das melancholische Lied. Dutzende solcher Liedblätter liegen auf dem Klavier. Es sind Erinnerungen an die Musikantenzeit. Zwischen den lüpfigen Tanzstücken hätten sie stets Einlagen mit solchen zumeist melancholischen Liedern geboten. Da sei es jeweils mäuschenstill gewesen im Saal. «Nicht selten hatten die Leute Tränen in den Augen.» Das tägliche Klavierspiel ist für Xaver Wächter bis zum heutigen Tag unentbehrlich. Jeden Morgen schaltet er das Radio ein, hört die «Musikwelle» und begleitet die einzelnen Musikstücke auf seinem Klavier. Dann hole er eines seiner unzähligen Textblätter hervor und singe seine Lieblingslieder. «Musik ist mein Lebensinhalt, daraus schöpfe ich täglich Kraft. Wenn ich einmal nicht mehr spielen kann, dann bedeutet dies für mich das Ende.»


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