Leben fernab von zuhause
06.07.2024 Persönlich, KaistenEin etwas anderes «Persönlich» aus der Sicht einer Gastgeberin. Zwei Jahre und drei Monate lebten unsere ukrainischen Gäste bei uns. Vor wenigen Tagen sind sie in ihr Heimatland zurückgekehrt. Die Angst reiste mit.
Susanne Hörth
Die Betten sind ...
Ein etwas anderes «Persönlich» aus der Sicht einer Gastgeberin. Zwei Jahre und drei Monate lebten unsere ukrainischen Gäste bei uns. Vor wenigen Tagen sind sie in ihr Heimatland zurückgekehrt. Die Angst reiste mit.
Susanne Hörth
Die Betten sind abgezogen, die Spielsachen verstaut und die Schränke leergeräumt. Dennoch sind die Räume bis in die letzten Winkel voller Erinnerungen an die drei Menschen, die hier zwei Jahre und drei Monate gelebt haben. Viel haben sie in dieser Zeit erlebt, viel kennengelernt, viel erfahren und immer auf eine Rückkehr gehofft. Jetzt sind sie abgereist. Abgereist in ein Land und in eine Stadt, in welchen noch immer Krieg herrscht. Im Gepäck reist deshalb auch die Angst mit. Dennoch ist der Entscheid gefallen. Die Sehnsucht nach den Daheimgebliebenen sowie das Heimweh gaben den Ausschlag. «Wir werden immer in Kontakt bleiben. Und wenn der Krieg zu Ende ist, kommst Du uns besuchen. Versprochen.» Es war ein kurzer Abschied, fast emotionslos. Stimmt aber nicht, die Gefühle brodelten. Bei allen. Dabei waren wir doch schon längst von der Situation erschöpft, hofften auf eine Veränderung. Jetzt ist sie da. Die Erleichterung hat sich noch nicht eingestellt, vielmehr herrscht Wehmut.
Vor mehr als zwei Jahren
Ende März 2022 haben die damals 45-jährige Tatyana, ihr 8-jähriger Sohn Denis und ihre 68-jährige Mutter Valentina überstürzt und fassungslos über den russischen Angriffskrieg ihr Heimatland die Ukraine verlassen. Dabei hätte doch in jenen Tagen das neu erbaute Eigenheim in der südlichen Ukraine bezogen werden sollen. Hätte. Es steht seither leer. «Es steht noch», sagte Tatyana nach jedem Bombenangriff erleichtert. Erleichtert ist sie bei der Heimkehr vor wenigen Tagen, dass ihre Heimatstadt in den vergangenen Monaten mehrheitlich vor Angriffen verschont geblieben ist. Trotz der vielen sichtbaren Zeichen des Krieges habe das Leben wieder Fahrt aufgenommen. Das Düstere habe Platz gemacht für das Saubere und Gepflegte.
Sie selbst will endlich in das Haus einziehen und das Familienleben geniessen dürfen. Zusammen mit ihrem Ehemann, der als Reserve-Soldat in der Ukraine zurückbleiben musste, und mit ihrem Sohn sowie mit der Mutter. Während andere Gef lüchtete in den zurückliegenden zwei Jahren immer wieder für einige wenige Tage in die Ukraine reisten, war ihr das stets – vor allem wegen des Sohnes – zu gefährlich. Sie ist sich bewusst, dass sich das Leben in ihrem Heimatland verändert hat, sie auch gezwungen sein wird, anders als noch vor dem Krieg zu leben. Vieles hat sich verändert. Das spürt sie schon bei der mehrtägigen Heimreise. Regelmässig meldet sie sich, berichtet in wenigen Worten von der anstrengenden, langen Fahrt mit Bus und Bahn. Was erwartet sie zuhause?
Rückblick
Was sie erwartet, wusste sie ebenfalls nicht, als sie mit ihrem Sohn und ihrer Mutter sowie einer guten Freundin und deren Tochter Ende März 2022 von der Ukraine über Polen in die Schweiz flüchtete. Die erste Unterbringung war das Bundeszentrum in Basel. Dort wurden sie von der Freundin und deren Tochter getrennt. Die beiden wurden dem Kanton Genf zugewiesen.
«Unsere» Familie kam nach Aarau in die kantonale Unterkunft, von wo ich sie an einem nasskalten April-Tag abholte. Lange vor dem vereinbarten Zeitpunkt hatte man sie mit ihren wenigen Koffern zum Warten nach draussen geschickt. Bleich, übermüdet und komplett verunsichert stiegen sie zu mir ins Auto. Wir wussten nichts voneinander. Ausser Namen und Geburtsdaten wurden keine Angaben von kantonaler Seite her gemacht. Die Sprachbarriere trug das ihrige zur ohnehin schon angespannten Situation bei. Die zunehmend ländliche Region auf der Heimfahrt war ebenfalls nicht hilfreich. Endlich zuhause, bekam der Bub hohes Fieber, die Mutter fragte nach Arzt und Medikamenten. Als Gastgeber hat man wider besseres Wissen die Erwartung, spontane Freude und Helligkeit in das Leben der gef lüchteten Menschen bringen zu können.
Dank der spontanen Bereitschaft einer russisch sprechenden Frau aus der Region konnten wir noch am gleichen Abend ein klein bisschen Licht ins Dunkel bringen. Unsere ukrainischen Gäste erfuhren, dass Kaisten kein weiterer «Durchgangsort» war. Die Erleichterung, endlich etwas zur Ruhe zu kommen, war ihnen deutlich anzumerken. Tags darauf begann ein intensiver Ämterlauf. So viel musste erledigt und organisiert werden. Eine weitere Hürde war und blieb die Schule. Irgendwann entschied man sich für pragmatische Lösungen, mit denen alle leben konnten.
Der erstmals praktizierte Schutzstatus S war vor über zwei Jahren für Kanton und Gemeinden Neuland. Was wiederum dazu führte, dass einiges an den privaten Gastgebern hängenblieb. Die oft gestellte Frage «Würdest Du es wieder machen, wenn Du vorher gewusst hättest, wie gross der Aufwand sein wird?», bejahe ich jeweils. Natürlich hätte ich nie gedacht, dass aus angedachten drei bis sechs Monaten am Schluss 27 Monate werden würden. Es waren vor allem die ersten eineinhalb Jahre, die durch verschiedene Aufgaben intensiv waren. Unsere Gäste und wir lernten, nach Bedarf eine «Fünf» gerade sein zu lassen und auch mal herzlich über den einen oder anderen Stolperstein zu lachen. Etwa dann, wenn uns die Übersetzungs-App wiederholt Streiche spielte. So wollten unsere Gäste etwa wissen, warum sie ihre finanzielle Unterstützung in der Kirche abholen müssten. Das Wort Gemeindeverwaltung wurde in der russischen Übersetzung zu Kirche.
Kennenlernen
Im ersten Jahr lernte die kleine Familie ihre nahe und weitere Umgebung mehr und besser kennen. Mit grossem Interesse machten sie Ausf lüge, erkundeten die Region und nahmen gemeinsam mit uns an dörflichen Anlässen teil. Ich erfuhr im Gegenzug viel über die Ukraine und die Menschen dort, die Schulen, die Essgewohnheiten und mehr. Immer wieder staunte ich über das grosse botanische Wissen der beiden Frauen. Mit ihren «grünen Daumen» sorgten sie für eine blühende Blumenpracht in den Töpfen vor dem Haus. In den ersten Monaten ihres Aufenthaltes wurde es zur Gewohnheit, dass sie mit dem Pflanzen der Blumenzwiebeln stets in meine Richtung zu sagen pflegten: «Wenn das blüht, sind wir wieder zuhause in der Ukraine. Dann erinnern Dich die Blumen an uns.»
Geburtstag wie auch Weihnachten wollen sie auf jeden Fall wieder zuhause im eigenen Land feiern, sagten sie kurz nach ihrem Einzug bei uns. Die Blumen blühten und verwelkten; ein Kreislauf, der sich inklusive Zwiebel setzen mehrfach wiederholte. Geburtstage und Weihnachten wurden zweimal bei uns in der Schweiz gefeiert. Die nächsten Geburtstage stehen in wenigen Tagen an.
Nach Hause
Deutschkurse sowie ein wachsendes Netzwerk mit anderen ukrainischen Gef lüchteten vereinfachten im zweiten Aufenthaltsjahr den Alltag. Dass der soziale Kontakt mit den eigenen Landsleuten trotzdem eher klein gehalten wurde, erklärten sie mir damit, dass sie auch daheim in der Ukraine lieber auf wenige, dafür sehr gute Freunde setzen. Für Tatyana bedeutete im Januar dieses Jahres ein Fussgelenkbruch mit nachfolgender Operation eine massive Einschränkung. So weit weg von zuhause nicht auf beiden Füssen stehen und nicht im gewohnten Masse für Sohn und Mutter sorgen zu können, belastete sie sehr. Ebenso das scheinbar so weit entfernte Zurückkehren in die Ukraine. Am zurückliegenden Wochenende sind sie nach einer langen Reise dort angekommen. Müde, erschöpft «und vor allem glücklich», schrieb sie mir. «Wir bleiben in Kontakt.»