«Ich will Arzt werden und Menschen helfen»
27.12.2024 Brennpunkt, KaistenSeit zwei Jahren lebt Fadej mit seinen Eltern Nataliia und Ivan Kulak in Kaisten. Die Familie hat in der Ukraine Schreckliches erlebt und ihr Zuhause, aber nicht die Zuversicht verloren. Fadej hat zuerst die Integrationsschule in Möhlin besucht, dann folgten je sechs Monate Real- und ...
Seit zwei Jahren lebt Fadej mit seinen Eltern Nataliia und Ivan Kulak in Kaisten. Die Familie hat in der Ukraine Schreckliches erlebt und ihr Zuhause, aber nicht die Zuversicht verloren. Fadej hat zuerst die Integrationsschule in Möhlin besucht, dann folgten je sechs Monate Real- und Sekundarschule in Laufenburg. Mittlerweile geht er in die zweite Bezirksschulklasse.
Susanne Hörth
Allzu viel gesehen von der Schweiz hat der heute 15-jährige Fadej noch nicht. Gleichwohl weiss er schon einiges über das Land, in welchem er und seine Eltern Nataliia und Ivan Kulak Ende 2022 eine neue Heimat gefunden haben. Mit grossem Interesse liest er Bücher, die über die Schweizer Geografie wie auch ihre Geschichte erzählen. In der Ukraine lebte die Familie mitten im umkämpften Kriegsgebiet. Nach Monaten voller Schrecken, schlimmen Erlebnissen und Angst, wussten sie schliesslich keinen anderen Ausweg mehr als zu flüchten. Nicht mitgekommen ist die erwachsene Tochter. Die Polizistin ist bei ihrem Freund geblieben.
Im polnischen Warschau konnten die Geflüchteten für einige Tage bei der Frau unterkommen, deren Schwester in Ittenthal lebt. Diese und ihr Mann organisierten zusammen mit anderen Personen eine Wohnung für die Familie in Kaisten. «Wir sind unglaublich dankbar für die grosse Unterstützung, die wir erfahren dürfen.» Nataliia Kulak erwähnt sie alle namentlich, insbesondere auch die Familie, die ihnen die Wohnung in Kaisten nun schon zwei Jahre zur Verfügung stellt. Ihr Mann Ivan und Sohn Fadej nicken zustimmend. Die aktive Hilfe, die sie hier in der Schweiz nach ihrer Flucht und bis heute erfahren, hat die vom Krieg traumatisierte Familie auch wieder lernen lassen, positiv nach vorne zu schauen.
«Ja, ich finde es sehr schön hier. Gerne möchte ich auch in der Schweiz bleiben», geht der Jugendliche auf entsprechende Frage ein. Dieses Mal folgt die nickende Zustimmung der Eltern. Das Gespräch findet auf Deutsch statt. Wenn Nataliia einen Ausdruck nicht gleich weiss oder sie bei der Zeitform unsicher ist, wendet sie sich an Fadej. Er spricht sehr gut Deutsch. Gelernt hat er es in der Schweiz; in der Schule wie auch durch ständiges Üben zuhause in der Freizeit. «Fadej ist sehr ehrgeizig. Unsere Kinder lernen sehr gut, haben keine Mühe damit. Und das schon von ganz klein an», erklären die stolzen Eltern. Der schulische Weg, den Fadej in der kurzen Zeit in der Schweiz schon durchlaufen hat, bestätigt diese Aussage mehrfach. Es ist eine Erfolgsgeschichte.
Fadej und die Schule
Aktuell befindet sich Fadej in der zweiten Bezirksschulklasse in Laufenburg. Die ersten Monate nach der Ankunft in der Schweiz besuchte er zusammen mit anderen ukrainischen Jugendlichen die Integrationsklasse in Möhlin. Nach wenigen Monaten erfolgte der Wechsel in die erste Real nach Laufenburg. Das konsequente Lernen zahlte sich aus. Sechs Monate später trat er in die Sekundarstufe und wiederum sechs Monate darauf in die Bezirksschule über. Wenn er im kommenden Sommer in das letzte obligatorische Schuljahr wechselt, möchte er zusätzlich das Fach Latein belegen. Er mag Sprachen. Mittlerweile ist es neben Ukrainisch, Russisch, Deutsch und Englisch auch Französisch. Lernen bedeutet für den Jugendlichen keinen Stress. «Ich mache es wirklich gern», betont er. Er tut es auch am Wochenende. Dann aber nicht für die Schule in der Schweiz, sondern für jene in der Ukraine. Einmal pro Woche erhält er online den Unterrichtsstoff inklusiv zahlreicher Prüfungsaufgaben der neunten Klasse. Selbst die Eltern staunen, mit welcher Leichtigkeit ihr Sohn auch das schafft.
Kommt bei all dem Schulischen die Freizeit nicht zu kurz? Fadej schüttelt den Kopf. Ab und zu treffe er sich mit Kollegen. Zudem mag er Computerspiele. «Und ich spiele Tischtennis.» Er tue dies oft mit Gleichaltrigen in den Schulpausen. Während er spricht, steht Vater Ivan auf, kommt kurz darauf mit drei Tischtennis-Schlägern zurück. «Das ist der von Nataliia, das ist meiner und der hier gehört Fadej.» Die drei gehen regelmässig zum nahe gelegenen Kaister Schulhausplatz. Da können sie ebenfalls Tischtennis spielen. Ein Schmunzeln huscht über die Gesichter der drei Kulaks, als sie von diesen familiären Plauschwettkämpfen erzählen.
Berufswunsch
Klare Ziele hat Fadej, was seinen späteren Beruf betrifft. Nach der Bezirksschule möchte er das Gymnasium besuchen und anschliessend Medizin studieren. «Ich will Menschen helfen können.» Er sagt es mit leiser, fester Stimme.
Mutter Nataliia erzählt später, warum ihr Sohn diesen Wunsch hat und diesen Berufsweg mit grosser Wahrscheinlichkeit auch einschlagen wird. «Da, wo wir lebten, ist durch den Krieg so vieles zerstört worden. Weil wir kein Wasser hatten, gingen Fadej und mein Mann Ivan jeden Tag zu einer Wasserverteilstelle. Eines Tages – es hielten sich zu diesem Zeitpunkt viele Menschen da auf – wurde dieser Ort beschossen.» Nataliia hält kurz inne: «Wie durch ein Wunder blieben mein Sohn und mein Mann unversehrt.» Nicht aber so viele andere Menschen. Es gab viele Verletzte. Einer davon war ein Junge, der neben Fadej gestanden hatte. «Der Junge wurde am Kopf verwundet. Ivan und mein Sohn halfen ihm sowie anderen Verwundeten und riefen nach einem Krankenwagen.» Aber die Ärzte trafen viel zu spät ein. Der Junge starb. Ein unfassbar tragisches und zugleich schreckliches Ereignis, schon für Erwachsene kaum zu ertragen. Der damals 13-jährige Fadej sprach danach einige Tage kein Wort mehr. Dann sagte er zu seiner Mutter: «Wenn ich ein Arzt gewesen wäre, hätte ich den Jungen retten können.»
Ihre Heimat, ihre Verwandten und ihre Freunde vermissen Nataliia, Ivan und Fadej sehr. Aber dorthin zurückkehren können sie nicht. Dort, wo sie gelebt haben, ist alles zerstört. «Wir haben den Schrecken des Krieges in all seinen grauenvollen Zügen erlebt. Es ist unmöglich, sich ohne Tränen und Angst an diese Zeit zu erinnern», fasst es Nataliia mit trauriger Stimme zusammen. Deshalb wollen sie in der Schweiz bleiben, sich hier integrieren. Sie möchten arbeiten und damit ihre Lebenskosten selbstständig bestreiten.
«Ich würde gerne in einem Kindergarten arbeiten», sagt Nataliia. Sie kann sich mittlerweile auf Deutsch gut verständigen, weiss aber, dass sie ihre Sprachkenntnisse für die angestrebte Anstellung noch verbessern muss. Deshalb besucht sie nach wie vor täglich einen Deutschunterricht in Aarau und trifft sich an zwei Nachmittagen in Kaisten zu Konversationskursen. Sie wiederholt an dieser Stelle ihren Dank an die Menschen, die sie und ihre Familie so sehr im Alltag unterstützen. In der Ukraine hat die studierte Mathematik-Lehrerin 22 Jahre unterrichtet, ihr Mann war Manager in einem Unternehmen für technische Gase und medizinischen Sauerstoff.
Und Fadej? «Medizin ist wirklich mein Traumberuf. Ich habe so viele arme Leute gesehen, die Hilfe brauchten. Ich möchte helfen können.»