«Ich bin Witwe, obwohl mein Mann noch lebt»
19.11.2024 Brennpunkt, GesundheitDer Besuchsdienst Möhlin lud zum Fachvortrag über Demenz und wurde regelrecht überrannt. Es war schwere Kost, herausragend vorgetragen.
Ronny Wittenwiler
Irene Bopp-Kistler hatte gerade ihr Referat beendet; ein Referat, so bedrückend wie beeindruckend, dann ...
Der Besuchsdienst Möhlin lud zum Fachvortrag über Demenz und wurde regelrecht überrannt. Es war schwere Kost, herausragend vorgetragen.
Ronny Wittenwiler
Irene Bopp-Kistler hatte gerade ihr Referat beendet; ein Referat, so bedrückend wie beeindruckend, dann sagte Maria-Pia Scholl, Vizepräsidentin vom Besuchsdienst: «Es gibt Lichtblicke in dieser Dunkelheit. Ein solcher Lichtblick für mich ist, dass es kein richtig oder falsch gibt. Das sollte uns Hoffnung geben.» Danach, beim Apéro, war Bopp-Kistler noch immer die gefragte Person, die sie zuvor schon gewesen war. Auf Einladung des Besuchsdienst Möhlin referierte die Geriaterin und ehemals leitende Ärztin einer Zürcher Klinik zum Thema Demenz. Der Saal im Wohn- und Pflegezentrum Stadelbach: rappelvoll. Die Krankheit macht oft hilflos, immer betroffen.
Und dann war alles weg
Bopp-Kistler brachte dem Publikum das Thema näher – angefangen vom Krankheitsbild, hin zu den gewaltigen Herausforderungen für Patienten, Angehörige, Pflegende, und ja: Oftmals sind Angehörige eben auch Pflegende, genauso Ehepartner, Verzweifelte, Trauernde. Schönreden lässt sich sowas nicht. Untermalt mit Aussagen von Betroffenen verstand es Irene Bopp-Kistler, eine Fachfrau im Unruhezustand, pensioniert und engagiert, die gesamte Tragweite von Demenz zu vermitteln. Was es etwa heisst, wenn jedes Mal aufs Neue ein Stück gemeinsame Vergangenheit wegbricht. «Es sind wie tägliche Beerdigungen», zitierte sie eine Angehörige. Oder: «Ich bin Witwe, obwohl mein Mann noch lebt.» Das ging unter die Haut und dorthin, wo die Krankheit am meisten schmerzt: «Demenz tut unendlich weh.» Im Herzen. Sie sprach von einem langsamen Abschied, davon, was Demenz mit den direkt betroffenen Menschen macht. «Ich weiss, was ich tue, doch ich weiss nicht, was ich getan habe.» Sie nannte als Beispiel ein Ehepaar, das einen gemeinsamen Ausf lug in die Berge machte – am Tag darauf war alles weg. «Die Frau erinnerte sich nicht mehr daran.»
Von Nähe und Distanz
Irene Bopp-Kistler sprach von ersten Anzeichen wie sozialem Rückzug und abnehmender Empathie, die Demenz-Kranke erfassen, von peinlichen Situationen, denen sich Partnerinnen oder Partner in der Öffentlichkeit ausgesetzt sehen und von der Diagnose, die oft, weil sie Licht ins Dunkel bringt, auch eine Erleichterung mit sich bringt. Dabei liess Bopp-Kistler keine Lücke, kein Tabu aus. Sie erzählte von der Ehefrau, die ihren Mann pflegt und die sich so beim gemeinsamen Duschen eine letzte verbleibende Zärtlichkeit und Nähe nicht nehmen lässt; aber auch von dem Mann, der sagt: «Ich habe eine Partnerin geheiratet. Ich kann mein Bett nicht mit einem Kind teilen.» Nicht erst an diesem Punkt zeigte sich, wie unterschiedlich Betroffene mit der Krankheit umgehen. Was Angehörige deshalb am wenigsten brauchen, seien Ratschläge. «Ratschläge sind Schläge», sagte Bopp-Kistler. Mit anderen Worten: Es gibt kein Richtig oder Falsch. Diesen Lichtblick, wie ihn Maria-Pia Scholl nannte, er schien vielen Anwesenden ein Stück Zuversicht und Mut mit auf den Weg zu geben. Irene Bopp-Kistler habe die Altersmedizin in der Schweiz wesentlich mitgeprägt, sagte Maria-Pia Scholl über die Referentin. In herausragender Weise verstand es die Geriaterin denn auch, den unterschiedlichen Menschen hinter dieser Krankheit eine Stimme zu geben. Erstaunliches sagte sie zum Schluss, worüber sich die Forschung einig sei: «Das musikalische Gedächtnis bleibt bei Demenzkranken bewahrt.» Es hatte etwas Tröstliches.
Demenz macht betroffen. Das hat das Referat eindrücklich gezeigt – genauso die Tatsache, dass der Besuchsdienst an diesem Abend, einem ganz normalen Mittwoch, regelrecht überrannt worden ist.