Der letzte Sheriff
12.04.2025 Persönlich, MöhlinEr trieb den Töffli-Buebe der Neunzigerjahre den Schweiss auf die Stirn. Doch Andreas Hollenstein (63) aus Möhlin war viel mehr als das. Ein Dorfpolizist geht in Pension.
Ronny Wittenwiler
36 Jahre Polizei. Dann macht er mit einer höchst unspektakulären ...
Er trieb den Töffli-Buebe der Neunzigerjahre den Schweiss auf die Stirn. Doch Andreas Hollenstein (63) aus Möhlin war viel mehr als das. Ein Dorfpolizist geht in Pension.
Ronny Wittenwiler
36 Jahre Polizei. Dann macht er mit einer höchst unspektakulären Amtshandlung Schluss. Irgendwie ist das bezeichnend, wir kommen darauf zurück, beginnen aber mit einer wichtigen Frage.
Willkommen in den Neunzigern
«Andreas Hollenstein, wissen Sie überhaupt, wie man ein Töffli frisiert?» Theoretisch ja, er habe es aber nie gemacht. «Ich war dabei, als ein Jugendfreund sein frisiertes Solex zuhause auf dem Bauernhof testete.» Nach zweihundert Metern passierte es: Kolbenklemmer. Und Hollenstein sollte bald einmal – Achtung: Pathos – auf der Seite des Gesetzes stehen und im Meler Sonnenrank Asphaltcowboys aus dem Verkehr ziehen. Es waren die Neunziger und er der Dorfpolizist. Als lieferte er sich mit einem kleinen Zirkel Jugendlicher ein regelrechtes Katz- und Maus-Spiel. «Das war es ja auch», sagt er dann zur grossen Überraschung. Hollenstein, der bei einer Familie mal eben auf den Sohnemann wartete, weil dieser vor einer Kontrolle abgehauen war; Hollenstein, der nach einem Sprint über eine Abkürzung eben doch schneller war als das Puch Maxi. Vielleicht sollte es Jahre dauern, bis die Erwischten als längst gestandene Männer erkannten, wozu das Ganze. Erst noch das Lächeln im Gesicht, sagt Hollenstein jetzt trocken: «Das Basteln an Mofas ist toll, Jugendliche lernen so die Mechanik kennen. Aber oft ist ihnen die Gefahr nicht bewusst, wie bei hoher Geschwindigkeit die Masse zunimmt. Es ging und geht immer nur um die Sicherheit dieser jungen Menschen.»
Es ist eine Aussage mit dem Pinselstrich. Sie zeichnet das Bild eines Polizisten, dem es im Kern immer um die Sache ging.
Keine Rambos
«Andy Hollenstein ist so etwas wie der letzte Dorf-Sheriff», sagt sein Nachfolger auf dem Repol-Polizeiposten in Möhlin. Einwände gegen das Etikett hat Hollenstein keine, im Gegenteil: er lacht. Ordnet ein. Einen Oscar für den spektakulärsten Western würde Hollenstein nicht gewinnen und das ist gut so. Der Sheriff in unserem Fall war nie ein gnadenloser Vollstrecker. Er war unaufgeregter Zuhörer, besonnener Vermittler und wenn wir schon beim Film sind: «Die Polizei braucht keine Rambos. Die Dinge muss man anders in Ordnung bringen.» Jetzt hängt er seine Dienstwaffe an den Nagel. Am Anfang war die Post.
Werdegang
Nach der Lehre zum Briefträger arbeitet Andreas Hollenstein bei der Post im Raum Wohlen. Im Juli 1984 tritt er als Aspirant in die Grenzwache ein, er brevetiert, man stationiert ihn am Grenzübergang Stein-Säckingen. «Dort war ein sogenannter Atomwarnposten eingerichtet.» Am 30. April 1986 registrieren die Messsonden erhöhte Radioaktivität. Sowas vergisst man wohl ein Leben lang nicht. «Ich musste dann die Meldung weiterleiten, dass die radioaktive Wolke aus Tschernobyl die Schweiz erreicht hat.» Oder das: 1988 gewährte Hollenstein einem deutschen Paar zusammen mit der Schwägerin des Mannes, unmittelbar hinter dem Grenzübergang der alten Zollbrücke Schokolade einzukaufen. Hollenstein blieb auf Sichtdistanz. «Ich beging grundsätzlich ein Dienstvergehen. Die Schwägerin des Mannes hatte kein Visum, sie war aus der DDR.» Für sie muss das Stückchen Schokolade der Himmel gewesen sein. «Als sie wieder zurück über die Grenze gingen, baten sie mich um ein Erinnerungsfoto.»
Möhlin wird sein Zuhause
Als sich Hollenstein im Oktober 1988 bei der Gemeindepolizei Möhlin bewirbt, war diese in die Schlagzeilen geraten. Selbst der «Blick» hatte berichtet. Hollensteins Vorgänger, den er nie persönlich kennenlernte, verweigert aus Angst den Militärdienst und taucht unter. Im Mai 1989 und nach Abschluss der Polizeischule übernimmt Hollenstein in Möhlin. Er bleibt. 36 Jahre lang. Ehestreitigkeiten, Ruhestörung, Streit unter Nachbarn, Einbrüche, alles war dabei. Und ja, manchmal gab es auch kritische Situationen. Wie er davon erzählt, bleibt er seiner Linie treu: ruhig und unaufgeregt blickt er darauf zurück. Die Dinge möglichst mit richtigen Worten zu regeln, war stets seine Devise. «Es braucht immer Augenmass.»
Gleich nach dem Kinderumzug am 3. Faisse bewegt sich ein zweiter Korso durchs Dorf: Polizei, Feuerwehr, Werkhof. Sie alle erweisen ihrem Andreas Hollenstein zur Pension die Ehre. Minuten zuvor erfüllt er mit einer allerletzten Amtshandlung auf geradezu höchst unspektakuläre Weise seine Dienstpf licht. «Ich musste noch einen Ausweisverlust bearbeiten», sagt Hollenstein und lacht. Das grosse Kino hat er aktiv gar nie gesucht. Doch war er immer da, wenn es ihn brauchte, den letzten Sheriff aus der Ära der Dorfpolizisten, der noch im Telefonbuch stand. Von seiner Dienstwaffe hat er in über vierzig Jahren als Grenzwächter und Polizist nie Gebrauch machen müssen. Auch das ist ein Statement.
Nun hat er ausgestempelt.
Vom Dorf- zum Regionalpolizisten
Bis zu seiner Pensionierung Ende Februar war Andreas Hollenstein stellvertretender Leiter der Regionalpolizei (Repol) Unteres Fricktal und gleichzeitig Postenchef am Standort Möhlin. Zusammen mit Hansueli Loosli, Leiter der Regionalpolizei, hat er diese vor 18 Jahren aufgebaut. Vor der Gründung der Repol im Jahr 2007 war Hollenstein als Gemeindepolizist für Möhlin im Dienst. Mit ihm ging der dienstälteste Polizist im Fricktal in Pension. «Jetzt bin ich dafür der jüngste pensionierte Polizist», sagt Hollenstein – und freut sich auf die neu gewonnene Freizeit. Er ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Söhnen, Grossvater eines kleinen Jungen. Als langjähriges Mitglied der Männerriege Möhlin leitet er die Faustball-Abteilung. (rw)