«Künstler nehmen Schwingungen auf, die andere nicht wahrnehmen»

  09.11.2022 Kaiseraugst, Persönlich

Therese Frei: Dem Licht zugewandt

Ihre Tage seien gezählt, stellt Therese Frei gleich zu Beginn klar. Und auch die Zeit für dieses Gespräch sei begrenzt, die Krankheit zehre an ihren Kräften, nach einer Stunde brauche sie Ruhe. Dann fängt sie an zu erzählen.

Von Andreas Fischer *

Damals, in den Fünfziger-Jahren, stellten Aargauer Maler wie Otto Wyler und Otto Ernst ihre Staffeleien in der Gegend der Staffelegg auf. Sie zogen die Aufmerksamkeit des Mädchens auf sich, das dort in der Nähe, in Asp, lebte. Die Mutter ermahnte Therese zwar, sie dürfe die Künstler nicht bei der Arbeit stören. Trotzdem pirschte sie sich immer wieder an sie heran. Einmal, als sie sich hinter einem Birnbaum versteckte, rief sie Otto Ernst zu sich, erklärte ihr, wie er die Farben einsetzte, fragte sie, ob ihr das Gemälde gefalle. Der gelbe Busch auf dem Bild sei in der Natur nicht zu sehen, stellte sie fest. «Aber er bringt Licht ins Bild», sagte der Künstler. Therese verstand, war begeistert und beschloss, Kunstmalerin zu werden.Da war sie zirka vier Jahre alt.

Eine vibrierende Atmosphäre
Ihr Vater war Feinmechaniker und ein Tüftler. «In seiner Werkstatt», erzählt Therese Frei, «herrschte eine vibrierende Atmosphäre. Er zauberte Sterne hervor, die durch den Raum flogen. Diese Stimmung habe ich zeitlebens gesucht.» Doch zunächst galt es, «etwas Rechtes zu lernen». Therese Frei absolvierte das KV auf einer Gemeindekanzlei
– «eine öde Verwaltungslehre». Nachher arbeitete sie von 1965 bis 1968 auf der Grossbaustelle an der oberen Vorstadt in Aarau, als rechte Hand der Bauleitung, «das 12-stöckige Verwaltungsgebäude, das Obergerichtsgebäude, ein Restaurant und die Einstellhallen wurden da hochgezogen», erinnert sie sich. «Die Zeit auf dem Bau, als einzige Frau unter 300 Männern, war für mein Leben fast ebenso prägend wie die spätere, viel länger andauernde Kunsttätigkeit. Dazwischen lagen noch einige Jahre auf einer Anwaltskanzlei.»

Im Alter von 36 Jahren beschloss Therese Frei, sich der Kunst zuzuwenden, besuchte die Schule für Gestaltung in Zürich, für eine erste Einzelausstellung im Jahr 1988 wickelte sie Tücher um Bäume. Als sie sie zwei Jahre später wieder abnahm, hatten die Bäume faszinierende Maserungen auf den Textilien hinterlassen. Schon damals beschäftigte sie das Faktum, dass wir nur eine Erde haben. «Künstler nehmen Schwingungen auf, die andere vielleicht noch nicht wahrnehmen», erklärt sie die frühe Sensibilität für ökologische Themen. Ein anderer Grund war ihr Mann, der im Baudepartement für Lufthygiene zuständig war. «Er sah, was da alles in die Luft rausgeht, was die Leute nicht wissen.»

Mit dem Volvo das Bild überfahren
1991 fand anlässlich des 700 Jahre-Jubiläums der Eidgenossenschaft eine Textil-Biennale zum Thema «Herkunft – Zukunft – Visionen» statt. Therese Frei stellte Werke aus, die sie selber als «Strassenbilder» bezeichnet. Dafür fuhr sie mit ihrem Volvo über eine mit Dispersionsfarbe bestrichene Textilunterlage, so entstanden auf dem Bild Reifenmuster. «Bewegung, Veränderung, Öffnung, Begegnung, Zwang, Abhängigkeit, Bedrohung, Begrenzung, Unterwegssein» – all dies sind Stichworte, die die Künstlerin mit den Strassenbildern assoziierte. «Bei der Fahrt übers Bild brach ein Kotflügel ab», erzählt sie lachend, «ich war dermassen auf das Werk fokussiert.»

«Fliessende Grenzen» lautete das Thema einer weiteren Ausstellung, hier arbeitete die Künstlerin mit Licht, «Licht geht tatsächlich über Grenzen hinweg», sagt sie dazu. Das Dossier musste sie anonym einsenden, sie unterzeichnete mit ihrem Fingerabdruck, worauf die Jury ihre Antwort ebenfalls mit Fingerabdrücken signierte. Die spielerische Stimmung in der Kunstszene sagte ihr zu. «Dann», erzählt Therese Frei, «wurde ich krank». Den Webstuhl, ihr bis dahin wichtigstes Instrument, konnte sie fortan nicht mehr bedienen. «Da muss man mit den Händen bis zu 3000 Fäden in die Ösen einziehen, und mit den Füssen muss man treten, um die Schäfte zu bewegen. Der ganze Körper ist bei der Arbeit eingespannt. Dafür reichte die Kraft nicht mehr.» Therese Frei wandte sich der Malerei zu, verwandelte ihr Textil- in ein Mal-Atelier und öffnete es für das, was sie im Anschluss an den französisch-jüdischen Pädagogen Arno Stern «absichtslose Malerei» nennt, einen «Malort» (Stern), wo Menschen zwischen drei und neunzig kommen und ihrem Inneren kreativen Ausdruck verleihen konnten. Ihre eigene Aufgabe verstand sie als eine zudienende, sie beantwortete Fragen, gab ab und zu einen Tipp, doch als Kurs wollte sie ihr Angebot nicht verstanden wissen.

Einfall mit Eigenleben
Therese Frei selber erlebte in dieser Zeit eine Hochphase ihres künstlerischen Schaffens. «Malen», sagt sie, «bedeutet für mich in erster Linie Experimentieren, mit Farben und Formen, auf verschiedenen Bildträgern. Wie erreiche ich allein mit der Farbe eine räumliche Wirkung? Wie setze ich Komplementärfarben ein? Solche Fragen interessieren mich.»

Am Anfang eines Bilds stehe ein Einfall. Doch gehe es nicht darum, diesen Einfall dann einfach abzubilden. Vielmehr: «Jeder Einfall hat ein Eigenleben. Dieses lerne ich erst im Prozess des Malens kennen. Was dabei entsteht, hat manchmal nur noch wenig mit der ursprünglichen Idee zu tun. Der Pinsel führt woanders hin, und es gilt, sich führen zu lassen.»

Ziemlich oft, ergänzt Therese Frei mit feinem Humor, habe der Weg schlussendlich in den Papierkorb geführt. Aber auch dann habe sie immer Spuren hinterlassen, sie sei ein grosser Schmutzfink gewesen beim Malen. Einmal, für einen Zyklus von Nachtbildern, habe sie eine Leiter bestiegen und von dort oben im Stil des amerikanischen Abstraktmalers Jackson Pollock durch Löcher in einem Kessel Farbe aufs Papier tropfen lassen. Es sei eine Explosion am Nachthimmel unter ihr entstanden. «Den Saustall ringsum zu putzen, hat ein Weilchen gedauert.»

Therese Frei schuf mehrere Zyklen, Frauenkörper, Nacht, Winter, Wasser sind darin typische Motive. Die letzten Werke wirken reduzierter, grosse Flächen bleiben weiss, das Motiv nimmt nur wenig Platz ein. Hier, erklärt die Künstlerin, werde der Einfluss der japanischen Malerei sichtbar, mit der sie sich in der letzten Phase ihres Schaffens auseinandergesetzt hat. Mit einem Winterbild hat sie Anfang dieses Jahres ihre künstlerische Tätigkeit beendet. «Zufällig war auch das erste Bild, das ich malte, ein Winterbild. Das war 1984. Der Kreis hat sich geschlossen.» Wenn sie weiter malen könnte, würde sie sich vertieft dem Licht zuwenden. Weil die Wohnung in Schöftland, in der sie gemeinsam mit ihrem Mann lebt, hell, geradezu lichtdurchflutet sei. Weil sie im Zusammenhang mit ihrer Krankheit lichtempfindlich geworden sei. Weil Licht unter technischem Gesichtspunkt eine Herausforderung sei, «es ist schwierig, Licht darzustellen». Weil es bei ihrer Initialerfahrung damals mit Otto Ernst um Licht ging. Und dann auch, fügt die sterbenskranke Frau hinzu, weil unser ganzes vergängliches Dasein ja eine Transformation ins Licht hinein vollziehe.

* Andreas Fischer ist reformierter Pfarrer in Kaiseraugst.

Therese Frei-We ist am am 9. August 2022 verstorben, wenige Tage, nachdem sie das Porträt zur Publikation freigegeben hatte. Sie hat ihre Bilder dem im afrikanischen Benin aktiven Hilfswerk «Source de Vie» vermacht. Im Rahmen einer Benefizausstellung im reformierten Kirchgemeindehaus Kaiseraugst vom 11. November (Beginn Vernissage: 18.15 Uhr) bis 27. November (Beginn Gottesdienst mit Finissage: 19.15 Uhr) können sie besichtigt und gekauft werden. Nähere Informationen und genaue Öffnungszeiten: www.ref-rheinfelden.ch


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote