«Er ist glücklich, so wie er ist»

  28.08.2022 Etzgen, Persönlich, Gesundheit

Familie Thierfeld über das Leben mit der Diagnose «Frühkindlicher Autismus»

Jonas sieht aus wie andere Kinder, so ist er aber nicht. Er hat Autismus und verhält sich darum oft anders. Autisten leben in ihrer eigenen Welt. Dies führt bei Begegnungen mit fremden Menschen, zum Beispiel auf dem Spielplatz, immer wieder zu Schwierigkeiten.

Karin Pfister

«Autisten sind anders und jeder Autist ist anders. Kennst du einen Autisten, kennst du genau einen». Diese Worte hat der Arzt Familie Thierfeld nach der Diagnose in diesem Frühling mit auf den Weg gegeben. Jonas ist dreieinhalb Jahre alt, aber auf dem Entwicklungstand eines Zweijährigen. Schon als er ein Jahr alt war, hatte seine Mutter das Gefühl, dass ihr Kind irgendwie «anders» ist, weil er anders gespielt hat als gleichaltrige Kinder.

Jonas kann lachen, fröhlich sein, rennen, springen und ganz viel schmusen und knuddeln. Aber: «Er kann noch nicht selber essen, nicht sprechen und er erkennt keine Gefahren. Wir müssen ihn lückenlos beaufsichtigen.» Er kommuniziert manchmal nonverbal mit seinen Eltern und nimmt sie bei der Hand, wenn er auf etwas aufmerksam machen will. «Am schwierigsten für uns ist, dass er uns nicht sagen kann, wenn ihm etwas weh tut und wo», so Nadine Thierfeld, welche selber mit einer Autismus-Spektrums-Störung lebt und sich deshalb gut in Jonas einfühlen kann. Oft erkenne sie schon im Voraus in welchen Situationen ihr Sohn gestresst sein könne, da sie von sich selbst wisse, welcher Auslöser zu Überforderung führen und kann die Situation dann dementsprechend umgehen. «Autisten können zum Beispiel schlecht Geräusche filtern. Ein Overload (Überreizung) kann zu einem Meltdown (eine Art Ausraster) führen.»

Ein Naturkind
Am wohlsten fühlt sich Jonas draussen. Jonas sei ein richtiges Naturkind. Er spielt am liebsten mit Sand, Steinen und im Wald. «Er hat ein kleines orangenes Förmchen in das er Sand, Kies, Dreck und Wasser füllen kann. Das ist eines der wenigen Spielzeuge, mit denen er spielt.» Zwei Mal pro Woche kommt die Heilpädagogin Isa Senn von der StiftungNETZ Rheinfelden zu Familie Thierfeld nach Hause. Übers Spiel und über den Kontakt mit diversen Materialien wird die Wahrnehmung von Jonas erweitert und gefördert. Isa Senn: «Wir versuchen übers Spielen mit ihm in die Kommunikation zu kommen.»

Autismus ist für Aussenstehende nicht ganz einfach zu verstehen, wie Nadine Thierfeld anhand eines Beispiels erklärt. «Autisten haben ihre eigene Wahrnehmung. Die Rutsche auf dem Spielplatz interessiert ihn nicht als Rutsche. Die anderen Kinder klettern rauf und rutschen runter. Er steht daneben und dann beginnt er Steine oder Stöcke die Rutsche runter rutschen zu lassen. Das findet er spannend.» Nicht alle Eltern auf dem Spielplatz haben Verständnis für diese Andersartigkeit. «Ich wurde schon mehrmals zurechtgewiesen, dass ich mein Kind besser erziehen soll.» Jonas spielt am liebsten für sich. Nicht weil er etwas gegen die anderen Kinder hat, sondern eben, weil er Autist ist. «Er spielt nicht mit andern Kindern, er spielt neben den anderen Kindern sein eigenes Spiel.» Was auch schon zu Problemen geführt habe, sei, dass er laut «jauchze», wenn er sich freut. «Er kann sich nicht anders ausdrücken, also «jauchzt» er. Auch hier habe sie auf dem Spielplatz schon negative Reaktionen erhalten. «Für mich ist das immer traurig. Er macht das ja nicht, um andere zu nerven.»

Fremdbetreuung ist schwierig
Da Jonas lückenlos beaufsichtigt werden muss, sei es auch schwierig einen Spielgruppenplatz oder einen Kitaplatz zu finden. «Er braucht eine sehr intensive Betreuung und viel Geduld. Manchmal muss man Abläufe 300-mal wiederholen bis er etwas kann. Ich habe zwei Wochen lang mit ihm geübt, Sand ins Förmchen zu füllen.» Nadine Thierfeld arbeitet 60 Prozent beim Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit, ihr Mann Stefan ist als Vertreter für Schwedenöfen schweizweit unterwegs. Die Kinderbetreuung teilen sie unter sich auf. An einem Tag pro Woche können sie auf die Hilfe von Grossmutter Ruth Tinner zählen.

Wie die langfristige Prognose für Jonas aussieht, könne man zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen. «Die Therapien haben erst angefangen. An vielen Orten wie bei der Logopädie gibt es längere Wartezeiten.» Am wichtigsten findet sie, dass es Jonas gut geht. «Er ist glücklich, so wie er ist.» Sie und ihr Mann hadern nicht mit der Diagnose. «Er ist ein Sonnenschein, fast immer fröhlich und aufgestellt. Er gibt uns sehr viel.» Was sich Familie Thierfeld aber wünschen würde, wäre etwas mehr Verständnis durch die Gesellschaft und mehr Unterstützung bei der Betreuung und dem Umgang mit Behörden wie der IV.


Frühkindlicher Autismus

Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die in der frühen Kindheit beginnt und sich in verschiedenen Auffälligkeiten zeigt. Diese setzen vor dem dritten Lebensjahr ein. Sie können in folgende drei Bereiche geteilt werden, weshalb sie auch als «Trias» für autistische Störungen gelten: Sozialer Umgang, Kommunikation, Verhaltensweisen. Der soziale Umgang mit Gleichaltrigen und auch mit ihren primären Bezugspersonen ist für autistische Kinder schwierig. Sie können soziale und emotionale Signale ihrer Mitmenschen schwer deuten und auch nur begrenzt selber Gefühle und Empfindungen mitteilen. Verhaltensweisen bei autistischen Kindern sind stereotyp, wiederholen sich immer wieder und sind häufig eingeschränkt. Aufgaben im Alltag von autistischen Kindern werden täglich in derselben Routine ausgeführt und sind von Ritualen geprägt. (mgt)


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