«Ich erzähle das, weil ich Mut machen möchte»

  10.04.2022 Brennpunkt, Frick

Sie redet vom Dreck, in dem sie gelegen hat, von Krankheit und Todesangst – und sie erzählt, wie sie mit Hilfe von Sozialamt, Kesb und Familienberatung den Ausstieg aus der Drogensucht geschafft hat. Als ausgebildete Seelsorgerin und Coach gibt Julia Allen aus Frick heute ihre Erfahrungen an Menschen weiter und begleitet sie durch Krisen und aus Suchtkrankheiten. Eine Lebensgeschichte, die Mut macht.

Simone Rufli

«Ich erzähle das, weil ich Mut machen möchte», beginnt Julia Allen das Gespräch mit der NFZ. «Weil ich mit meiner Geschichte zeigen will, dass man es schaffen kann, egal wie schlecht es einem gegangen ist. Dass man von Behörden auch wertvolle Hilfe bekommt. Dass die Kesb (Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde; Anm. d. Red.) nicht einfach eine Institution ist, die Eltern ihre Kinder wegnimmt, sondern auch viel Gutes tut. Und ich bin hier, um zu erzählen, dass ich die Jugend- und Familienberatung in Laufenburg als Stütze erlebt habe und immer noch erlebe.»

Dass sie heute als ausgebildete Seelsorgerin und als Coach suchtkranken Menschen helfen kann, diese zu Behörden begleitet, bei Bedarf als Privatbeistand unterstützt, coacht, begleitet sowie bei Krisen interveniert und vom Aufgeben abhält, geschehe aus Dankbarkeit für all das, was ihr selber an Gutem widerfahren sei in den letzten zwölf Jahren. «Meine Seelsorge-Ausbildung ermöglicht mir, mich selbst vor Gericht schützend vor meine Klientinnen und Klienten zu stellen und mich auf das Seelsorge-Geheimnis zu berufen.» Sie wolle die Ausbildung von Sozialarbeitern nicht schmälern, betont die junge Frau, «aber ihr Handeln basiert oft nur auf theoretischem Wissen. Ich berate aus Erfahrung.»

Einfach nur dankbar
Julia Allen ist 35 Jahre alt, Mutter von drei Kindern, mit denen sie altersgerecht aber offen über die verheerenden Folgen des Drogenkonsums spricht. Wenn sie heute ihre 13-jährige Tochter anschaue und sich ab und zu über die kleinen Auseinandersetzungen ärgere, die die Pubertät halt mit sich bringe, müsse sie an sich denken im Alter von 13. «Dann bin ich einfach nur dankbar und freue mich über die vollkommen normale und altersgerechte Entwicklung meiner Kinder.»

Julia Allen selber galt im Alter von 13 Jahren als verhaltensauffällig und wurde aus dem familiären Umfeld herausgerissen. «Warum ich verhaltensauffällig war, interessierte niemanden.» Ungehört und unverstanden trug der Teenager die Probleme auch in den Heimen, in denen sie platziert war, mit. Sie haute ab und fing an, Drogen zu konsumieren. Einmal in deren Sog, drehte die Abwärtsspirale rasend schnell weiter. Julia wurde obdachlos, lebte bald mehr auf der Gasse als anderswo. Allen Widerwärtigkeiten zum Trotz schaffte sie mit 17 den ersten Entzug. Sie begann eine Lehre beim Bundesamt für Migration in Bern – und wurde immer kränker. Die Diagnose: Hepatitis C. Die Lebenserwartung bei den damaligen Behandlungsmöglichkeiten ein Schock: «Die Ärzte sagten mir, ich würde maximal 30 Jahre alt.» Angesichts der Ausweglosigkeit riet ihr der damalige Freund, die Lehre abzubrechen. «Leider hörte ich auf ihn. Als wir später heirateten, versprach er mir, für mich und unsere gemeinsamen Kinder zu sorgen.»

Ein Rückfall, der zu erwarten war
Dass sie später rückfällig wurde, sei kein Wunder gewesen, sagt sie und erzählt, wie ihr Ex-Mann einen befreundeten Drogenabhängigen im Haus aufnahm. Im Wissen um die lebensbedrohende Krankheit seiner Frau, um ihren ständigen Kampf ums Weiterleben, um ihre Sorge, schon bald nicht mehr für die kleinen Kinder da sein zu können, bürdete er ihr auch noch die Überwachung des Entzugs dieses Mannes auf. Julia Allen lächelt: «Das war zu viel. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ich selber auch wieder konsumierte.» Der Ex-Mann half, den Deckel über dem neuerlichen Absturz zu halten – und Julia ging es immer schlechter. Eine Lungenembolie brachte sie für kurze Zeit ins Koma und für zwei Monate ins Spital.

Ein Lichtblick in den Monaten im Spital und der anschliessenden, wochenlangen Erholung daheim war die wiedergewonnene Nähe zum heutigen Ex-Mann. «Kaum hatte ich aber die Lungenembolie überlebt und mich von den Folgen erholt, konsumierte ich wieder Drogen.» Starke Bauschmerzen liessen sie bald an eine zweite Embolie denken. Der Arzt entdeckte dann eine andere Ursache: «Ich war schwanger mit unserem zweiten Kind.»

Ein Entscheid, der alles änderte
Trotz riesiger Freude über die
Schwangerschaft, die Suchtkrankheit schritt voran. «Ich sah keine Perspektive für mich und die Kinder.» Anstatt aufzugeben, fällte Julia Allen einen Entscheid, der ihr Leben verändern sollte. Sie machte sich auf den Weg zum Sozialamt, sprach offen über ihre Suchterkrankung und bat um Unterstützung beim Weg aus der Abhängigkeit. Sie ging zum Hausarzt und verlangte, regelmässig zur Abgabe von Urinproben aufgeboten zu werden und sie arrangierte sich mit der angeordneten Familienaufsicht.

«Ich war bereit alles mitzumachen, unter der Bedingung, dass ich die Kinder bei mir behalten und den Entzug daheim machen konnte. Wären mir die Kinder weggenommen worden, hätte ich mich umgebracht, das habe ich den Behörden genauso mitgeteilt», sagt Allen und lässt keinen Zweifel aufkommen, dass es ihr ernst war damit. «Ich habe erlebt, was es mit einem Kind macht, wenn es aus der Familie gerissen wird.»

Dass die Kesb auf ihre Bedingungen einging, liess sie damals staunen und erfüllt sie noch heute mit grosser Dankbarkeit. «Da waren plötzlich Menschen, die an mich glaubten, die mir eine Chance gaben.» Nach zwei Jahren wurde die Familienaufsicht aufgehoben. Die Verbindung zur Familienberatung in Laufenburg ist bis heute geblieben. «Die Leute dort geben einem in jeder Lebenslage Tipps und hören zu.» Solche Menschen zu treffen sei ein Glück, genauso wie die Heilung von Hepatitis.

Eine Leberzirrhose im fortgeschrittenen Stadium hatte sie, das allerdings erkannte erst eine Naturheilpraktikerin, als es beinahe schon zu spät war. Von Glück spricht Allen, weil sie kein Geld hatte, um eine neue Therapie mit Behandlungskosten in der Höhe von 65000 Franken zu berappen. «Die Therapie war damals noch nicht anerkannt, so dass die Krankenkasse sie nicht bezahlen musste», erzählt Allen, «aber aus welchem Grund auch immer, die Kasse übernahm die Kosten trotzdem.» Zehn Wochen nach Beginn der Behandlung galt Julia Allen als geheilt – «nach 13 Jahren krank sein. Ich konnte mein Glück kaum fassen!»

Blickt sie zurück, sagt die glückliche Mutter dreier Kinder heute: «Das früher war nicht ich, das war der suchtkranke Mensch. Ich bin ein neuer Mensch.»


Aktionswoche «Kinder von suchtkranken Eltern»

Vom 21. bis 27. März fand die nationale Aktionswoche rund um die Thematik «Kinder von suchtkranken Eltern» statt. Im Kanton Aargau wurden insgesamt drei Anlässe durchgeführt, einer davon war eine Online-Podiumsdiskussion mit ehemals betroffenen Personen und Fachpersonen, unter anderem aus der Jugend- und Familienberatung in Laufenburg. Eine der betroffenen Diskussionsteilnehmerinnen war Julia Allen aus Frick. Sie erklärte sich im Anschluss an die Veranstaltung bereit, der NFZ ihre Geschichte bei einem persönlichen Treffen zu erzählen. (sir)


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote