Von Kirschen, Wanderjahren und Hüttenromantik

  19.02.2022 Persönlich, Zeiningen, Rheinfelden

Sibylle Freiermuth und ihr Schritt von der Wirtschaft ins Sozialwesen

Während 28 Jahren arbeitete Sibylle Freiermuth für Feldschlösschen. Dann wechselte sie ins Soziale. Seit 1. Oktober 2021 leitet sie die Pro Senectute-Beratungsstelle des Bezirks Rheinfelden.

Janine Tschopp

Sie ist als jüngstes von sieben Kindern in einer Zeininger Bauernfamilie aufgewachsen. «Verwöhnt war ich nicht», erzählt Sibylle Freiermuth, obwohl man das bei einem «Nesthäkchen» vermuten könnte. Wie ihre Geschwister hatte auch sie beim elterlichen Betrieb mitgeholfen. Einerseits unterstützte sie ihre Mutter im Haushalt, andererseits gab es viele saisonale Arbeiten, die erledigt werden mussten. In den Sommerferien zum Beispiel stand jeweils die Kirschenernte an. «In den ersten vier Ferienwochen waren wir mit der Ernte beschäftigt, in der fünften Woche durften wir dann mit dem ‹Chriesi-Geld› ins Schwimmbad.» Während andere Kinder in die Ferien irgendwo an einen See oder in die Berge fuhren, war für Sibylle Freiermuth die Ferienplanung von Anfang an klar. «Das war nicht immer so toll. Trotzdem war es eine gute Erfahrung, die ich nicht missen möchte», blickt die 52-Jährige zurück.

«Als jüngstes Kind konnte man die Ämtli nicht einfach weitergeben, wie das meine Geschwister vor mir getan haben», schmunzelt sie und ergänzt: «Da muss man sich schon etwas einfallen lassen, wie man es wieder los wird.»

Ein Jahr Romandie
Um ihr Französisch zu verbessern, verbrachte sie nach der obligatorischen Schulzeit ein Jahr als Au-pair in der französischen Schweiz. Mit ihrer Gastfamilie hatte sie nicht gerade das grosse Los gezogen, aber für sie war immer klar: «Was ich anfange, mache ich fertig.» Weil sie Papeterie-Artikel schon in der Kindheit faszinierten, beschloss sie, anschliessend eine Verkaufslehre in dieser Branche zu absolvieren. Bereits während der Ausbildung realisierte sie, dass sie noch mehr wollte. Sie bewarb sich bei der Brauerei Feldschlösschen für eine Bürolehre. «Die dreijährige KV-Lehre traute ich mir nicht zu.» Der Personalchef sah das anders, und stellte sie nur unter der Bedingung ein, dass sie die KV-Lehre in Angriff nahm.

Alte Strukturen aufbrechen
Nach der Lehre arbeitete sie während drei Jahren bei der Brasserie Müller in Neuenburg, damals eine Handelsgesellschaft von Feldschlösschen. «Dies war die Zeit der grossen Brauerei-Übernahmen und Fusionen.» So folgten für Freiermuth «Wanderjahre», in denen sie in der ganzen Schweiz unterwegs war, um Informatik-Prozesse einzuführen, betriebliche Abläufe zu vereinheitlichen und die Mitarbeitenden entsprechend auszubilden. Dies kam manch regionalem «Bierbaron» nicht gerade gelegen. So jung wie sie war, hatte sie die Aufgabe, alte Strukturen aufzubrechen und Neuerungen einzuführen. Sie hat ihre «Wanderjahre» aber in guter Erinnerung. «Es sind Freundschaften entstanden, welche ich heute noch pflege.»

In den 28 Jahren bei Feldschlösschen erhielt sie laufend die Möglichkeit, sich beruflich zu verändern und sich über verschiedenste Bereiche und Hierarchiestufen hinweg weiterzuentwickeln. Von der Lehrtochter bis hin zur Bereichsleiterin der Personalentwicklung. «Es blieb all die Jahre stets abwechslungsreich und spannend. Auch als sich mein Arbeitsgebiet mit der Übernahme durch Carlsberg auf andere Länder ausweitete, und ich auch international tätig war. Langeweile oder Stillstand waren Fremdwörter.»

Der Schnitt im 2015
2015 kam Sibylle Freiermuth an einen speziellen Punkt. Sie konnte sich schlecht vorstellen, Feldschlösschen zu verlassen, aber noch weniger, bis zur Pensionierung zu bleiben. Die oftmals konzeptionelle und strategische Arbeit in der Personalentwicklung gefielen ihr, trotzdem wollte sie wieder näher zu den Menschen. Ohne zu wissen, wie es weitergeht, kündigte sie. Für viele eine sehr grosse Überraschung, für sie ein mutiger Schritt.

Dies gab ihr die Möglichkeit, auf eine innere Reise zu gehen und herauszufinden, was für sie nun wichtig war. «Ich hatte endlich mehr Zeit, für meine betagte Mutter da zu sein», erzählt sie von einer wichtigen Aufgabe. Während sie in einer SAC-Hütte oberhalb des Oeschinensees arbeitete, fand sie auch heraus, was Hüttenromantik genau heisst, oder eben nicht. Viel Arbeit, Kälte, wenig Schlaf im Massenlager und keine Rückzugsmöglichkeit. «Das waren Herausforderungen.» Grosse Glücksgefühle kamen jeweils bei der Begegnung mit der Tierwelt auf. «Zum Beispiel, als mir ein Steinbock beim Putzen der Freilufttoiletten aus nächster Nähe über die Schulter schaute. Das werde ich nie vergessen.»

In ihrer über einjährigen Auszeit wurde ihr klar, wohin der Weg führen sollte. Sie wollte im sozialen Bereich wirken, nahe bei den Menschen.

Im Februar 2017 begann sie als Leiterin der Pro Senectute-Beratungsstelle im Bezirk Aarau. Seit 1. Oktober 2021 ist sie in der gleichen Funktion im Bezirk Rheinfelden, ihrem Heimbezirk, tätig. Nebst anderen Aufgaben ist sie für ihr Kernteam und 140 freiwillige und Dienstleistungs-Mitarbeitende verantwortlich. Die Zeiningerin sagt: «Es ist schön und in dieser Funktion von grossem Nutzen, dort zu wirken, wo man lebt.» Sie kenne hier viele Menschen, die Institutionen, die Begebenheiten.

Den Umbruch, zu dem sie sich vor sieben Jahren entschied, empfindet sie noch heute als eine ihrer besten Entscheidungen. Sie ist am richtigen Ort angekommen. Durch den Schritt von der Wirtschaft ins Soziale wurden die Arbeitstage nicht kürzer, auch der Druck und die Verantwortung wurden nicht kleiner. Aber sie ist dort, wo sie hinwollte: wieder ganz nahe bei den Menschen.


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