Lebensgeschichten ehemaliger Verdingkinder

  13.03.2021 Laufenburg, Persönlich

Wenn wir von Kinderarbeit hören, denken wir an Länder der Dritten Welt. Dabei ist es gar noch nicht so lange her, dass es auch bei uns in der Schweiz noch Kinderarbeit gab. Dies ganz legal und unter den Augen von «wachsamen» Behörden. Es waren Verdingkinder, die oftmals schwer zu leiden hatten.

Dieter Deiss

Die in Laufenburg wohnhafte 49-jährige Astrid Bieri, Mutter von zwei erwachsenen Söhnen, arbeitet als Dozentin an der Pädagogischen Fachhochschule Nordwestschweiz (PH FNHW). Sie hat sich für ihre Dissertation, also für die «Doktorarbeit», während rund fünf Jahren intensiv mit den Lebensgeschichten von fünf ehemaligen Verdingkindern auseinandergesetzt und die Ergebnisse dieser Arbeit in einer 270 Seiten umfassenden Publikation mit dem Titel «Kindheit in Knechtschaft: verdrängen oder anerkennen?» veröffentlicht. Mit der Arbeit möchte sie nicht zuletzt bei Lehrpersonen Verständnis wecken für Schülerinnen und Schüler, die aus schwierigen Verhältnissen kommen. Aufgrund ihrer Herkunft müssen solche Kinder oft viel mehr leisten, um auf Anerkennung zu stossen.

Lehrerin und schulische Heilpädagogin im Fricktal
In Bern und Langenthal aufgewachsen, war die Autorin zunächst als Lehrerin an der Kleinklasse im Burgmattschulhaus in Laufenburg tätig. Nach der Ausbildung zur schulischen Heilpädagogin setzte sie sich mit Erfolg für die Einführung des Integrativen Unterrichts ein, also die Abschaffung der Kleinklassen und Integration dieser Schülerinnen und Schüler in die Regelklassen. Die Separierung von schwachen Kindern stigmatisiere diese oftmals lebenslang, meint sie zu diesem Schritt. «Wenn aber sogenannte normalbegabte Schüler und solche, die etwas anders oder langsamer lernen, in der gleichen Klasse unterrichtet werden, können letztlich beide voneinander profitieren.» Die Laufenburger Behörden hätten sich übrigens sehr fortschrittlich gezeigt und der Integration von Beginn weg zugestimmt. Ganz offensichtlich vermochten die Argumente von Astrid Bieri und der damaligen Schulleiterin zu überzeugen.

Die Integration sämtlicher Kinder in Normalklassen fordere die UN-Behindertenkonvention. So hätten auch behinderte Kinder beziehungsweise deren Eltern grundsätzlich das Recht, den Besuch einer Regelklasse einzufordern. Da stellt sich unwillkürlich die Frage, wie dies dann mit der Heilpädagogischen Sonderschule sei, die ja in den vergangenen Monaten gerade im Fricktal einiges zu reden und schreiben gab. Auch hier befürwortet Astrid Bieri eine gemeinsame Schulung, natürlich mit Hilfe von entsprechenden Ressourcen. Studien zeigen, dass die Lernfortschritte von Kindern mit einer Behinderung grösser sind, wenn sie eine Regelklasse besuchen. Ausserdem weisen Forschungsergebnisse darauf hin, dass sich die Leistungen der sogenannt «normalbegabten» Kinder durch eine gemeinsame Beschulung nicht verschlechtern, vielmehr würden sie insbesondere im sozialen Lernen sogar mehr Fähigkeiten erwerben.

Gotthelf und Grosstante gaben den Anstoss
Neben weiteren Unterrichtstätigkeiten an der Oberstufe in Mumpf nahm Astrid Bieri ein Studium in Erziehungswissenschaften an der Universität Basel und an der Fachhochschule Nordwestschweiz auf. Auch hier galt ihr Augenmerk den Schwächsten in unserer Gesellschaft. Den Anstoss zu ihrer Auseinandersetzung mit ehemaligen Verdingkindern gab ihr einerseits ihr Elternhaus, wo es aus pädagogischen Gründen keinen Fernseher gab. Stattdessen hörte man Radio. Hier waren es namentlich die zu Hörspielen verarbeiteten Gotthelf-Geschichten. Das Leben der Verdingkinder werde von Jeremias Gotthelf verschiedentlich thematisiert, wodurch sie mit dem Thema vertraut geworden sei. Insbesondere sei es aber auch ihre Grosstante gewesen, die noch Verdingkinder kannte und aus deren Leben erzählt habe. So beispielsweise die Geschichte vom Verdingbuben, der jeweils morgens vor Schulbeginn die Milch in die Käserei tragen musste. Deshalb kam er oft zu spät zur Schule. Hier traf er auf wenig Verständnis bei seinem Lehrer, der ihm für das Zuspätkommen Schläge erteilte.

Astrid Bieri setzte sich im Rahmen ihrer Dissertation vertieft mit dem Thema der Verdingung von Kindern auseinander. Freilich sei ihr bewusst gewesen, dass es dazu bereits diverse Meilensteine der Aufarbeitung gebe, erzählt sie, und weist auf eine grossangelegte Nationalfondsstudie hin, sowie auf die Wiedergutmachungsinitiative oder die bundesrätliche Entschuldigung an die Opfer im Rahmen eines Gedenkanlasses. «In meiner Arbeit will ich aufzeigen, wie die ehemaligen Verdingkinder ihre teils schrecklichen Kindheitserlebnisse verarbeitet haben und welche Ressourcen ihnen dabei geholfen haben», erzählt Bieri.

Fünf Geschichten von Verdingbuben
Kern der Arbeit sind Lebensgeschichten von fünf Männern, die zum Zeitpunkt der Befragung zwischen 63 und 80 Jahre alt waren. Sie alle wurden in ihrer frühen Kindheit, teils bereits im Säuglingsalter, verdingt. Schrecklich und unfassbar, was da zu lesen ist: Schläge, sexueller Missbrauch, Hunger und Schwerstarbeit waren an der Tagesordnung. Unglaublich die Geschichte des Mannes, der von den Behörden als Säugling, zusammen mit seiner Mutter auf einen Bauernhof verdingt wurde. Die Mutter war als Magd angestellt, durfte ihr Kind nicht betreuen und es war ihr verboten, sich gegenüber dem Kind als seine Mutter erkennen zu geben. Erst als die Mutter den Hof verliess, erzählte man dem unterdessen 15-jährigen Knaben die Wahrheit.

Für die Gespräche mit den fünf Opfern habe sie sehr viel Zeit investiert, erzählt die Autorin. Ein erstes Gespräch habe jeweils rund drei Stunden gedauert. In einem zweiten, nochmals ausführlichen Gespräch, bestand dann die Gelegenheit zum Nachfragen. Bieri zeichnete sämtliche Gespräche auf und brachte diese anschliessend wortgenau, also in Mundart, zu Papier. Bis zu 50 Seiten sind dies pro Fall. Freilich habe sie sich nicht damit zufriedengegeben. Auf der Grundlage von eigenen Recherchen und von Unterlagen, die ihr zumeist von den Betroffenen zur Verfügung gestellt wurden, habe sie versucht, die gemachten Angaben zu verdichten.

«Die Gespräche mit den fünf Männern waren teils sehr berührend», führt Astrid Bieri dazu aus. Erschreckend sei die Lieblosigkeit, mit der man damals diesen Kindern begegnet sei. Trotz der misslichen Ausgangslage für den Start ins Leben, sei es erstaunlich, was diese Menschen letztlich erreicht haben. Eindrücklich sei insbesondere, wie sie die für die Bewältigung eines erfolgreichen Lebens benötigten Ressourcen aufzubringen vermochten, obwohl die Vergangenheit der Betroffenen für sie jahrzehntelang mit Scham behaftet war.

Wie war dies möglich?
«Weshalb konnte es überhaupt zu diesem Unrecht kommen»? Dafür gebe es verschiedene Ursachen, meint Bieri: «Den verantwortlichen Behörden fehlte das fachliche und pädagogische Wissen. Die Gemeinden wollten möglichst wenig Geld ausgeben. So wurden die Kinder aus schwierigen Verhältnissen demjenigen Bauern zugesprochen, der dafür am wenigsten Geld einforderte. Die Zöglinge mussten dann ihr Kostgeld mit ihrem Arbeitseinsatz abgelten.» Viele Leute, namentlich auch Behörden, Pfarrer und Lehrer, hätten den Mantel des Schweigens über das Unrecht gebreitet.

Zahlreiche der ehemaligen Verdingkinder haben sich im Verein «netzwerk verdingt» zusammengeschlossen. Diese Selbsthilfeorganisation hat viel zur Aufarbeitung der Vergangenheit ihrer Mitglieder beigetragen. Sie bot auch Astrid Bieri wertvolle Unterstützung für ihre Arbeit. Die Dissertation ist zweifellos ein weiterer Meilenstein in der Aufarbeitung dieser für uns heute unverständlichen Machenschaften.

www.netzwerk-verdingt.ch


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