«Lernen, mit dem Virus zu koexistieren»
26.01.2021 Nordwestschweiz, GesundheitGastbeitrag von Neurobiologe Dr. Xian Chu Kong – Volksstimme Sissach
Als ich fast auf den Tag genau vor einem Jahr mein erstes Interview für diese Zeitung geben durfte, war die Pandemie mit dem Coronavirus noch kaum ein Thema. Jetzt, ein Jahr später, hat das Virus seine Unschuld verloren und dominiert unseren Alltag. Wissenschafter sind plötzlich gefragter denn je und unterstützen Politiker in ihrer Entscheidungsfindung, wenn es um Massnahmen zur Eindämmung des Virus geht. Eine nicht immer einfache Aufgabe. Wir wissen noch wenig über das Virus und wie es sich in unserem Körper verhält. Kaum haben wir uns über die schnelle Zulassung von Impfstoffen gefreut, kommt mit den mutierten Viren aus England und Südafrika die nächste Hiobsbotschaft. Aus wissenschaftlicher Sicht ist dies eigentlich nicht überraschend, weil Viren die Eigenschaft zu mutieren immer besitzen. Positiv ist, dass Viren durch das viele Mutieren allmählich an Wirkung verlieren und sich abschwächen. Bei aktueller Situation wird man zwar durch die mutierten Viren nicht kränker, aber das Ansteckungsrisiko ist jedoch um einiges grösser.
Impfen ergibt Sinn
Klar, wir sind beunruhigt und müssen die Situation genau beobachten. Eine Grippewelle ist jedoch auch ansteckend und darum lassen sich viele Menschen vor dem Winter gegen Grippe impfen. Das macht Sinn, so wie das jetzige Impfen gegen Corona auch Sinn macht. Auch wenn in der Bevölkerung eine gewisse Skepsis herrscht. Im Sinne einer, wie wir dies nennen, polyklonalen Immunantwort wirkt der jetzige Impfstoff zu 95 Prozent und mit grösster Wahrscheinlichkeit auch gegen das mutierte Virus. «Ist es mit der Zulassung nicht alles zu schnell gegangen?», höre ich immer wieder. Dies kann ich klar erklären, weil schon vorher viele Forschungen gemacht worden sind. Zudem sind Testphasen parallel abgelaufen und Studiendaten von der Zulassungsbehörde wurden sofort analysiert. Zudem habe ich Vertrauen in Swissmedic, da werden seriöse und wissenschaftlich fundierte Abklärungen gemacht. Der Bundesrat möchte mit dem jetzigen Lockdown die Fallzahlen minimieren, damit das Gesundheitssystem wegen der Mutationen nicht kollabiert. Einverstanden, aber warum eine solche Generalübung, wenn doch nicht alle betroffen sind? Wir sehen Länder, die einen äusserst strengen Lockdown einführten, die heute wieder mit dem Virus kämpfen. Ist es daher nicht sinnvoller, die Risikogruppen noch gezielter zu schützen? Ich bin der Meinung, dass das Contact Tracing zu früh aufgegeben worden ist. Hiermit lassen sich die Menschen in ihrer Eigenverantwortung besser einspannen und so werden die Massnahmen als weniger von oben diktiert wahrgenommen. Man sollte das Contact Tracing konsequent durchführen, wie dies zum Beispiel mit Erfolg in Singapur umgesetzt wird. Es besteht meines Erachtens kein Grund, die Wirtschaft mit einer solch rigiden Massnahme wie einem Lockdown abzuwürgen. Wir sollten weiterhin konsequent testen, um effektiv die Krankheit kontrollieren zu können und beim Eintritt in abgeschlossene Räume, auch in Schulen, das Fieber messen. Hiermit lassen sich Infektionsherde besser eingrenzen.
Forschung stetig vorantreiben
Es ist eine Illusion, zu denken, dass wir das Virus ein für alle Mal besiegen können. Dieses Schicksal werden wir nie mehr los. Wir müssen lernen, mit dem Virus zu koexistieren und in Erfahrung bringen, wie es sich verhält. Mit dem Ziel, dass bei einem erneuten Ausbruch, zum Beispiel im Rahmen einer Mutation, Impfstoffe in der Forschung rasch adäquat angepasst werden können und wirksame Heilmittel verfügbar sind. Es ist deshalb von enormer Wichtigkeit, dass diese Forschung stetig vorangetrieben wird und keine Kosten gescheut werden, denn nur so kann die Menschheit die Zukunft meistern. Mit Freude habe ich feststellen können, dass Wissenschafter in der Schweiz eine hohe Glaubwürdigkeit besitzen. Diese Chance sollten wir packen.
Der «Schweizer Weg»
Es ist viel die Rede vom «Schweizer Weg» in der Pandemiebekämpfung. Aufgrund unseres Gesundheitssystems, das ich als eines der besten auf der Welt einschätze, hat man mehr Privilegien, um sich einen eigenen Weg zu suchen und darum ist das für andere Nationen eigenwillige Vorgehen des Bundesrats meines Erachtens durchaus verständlich. Die einzige Lösung, die Pandemie unter Kontrolle zu bringen, sehe ich nur in der Herdenimmunität. Solange diese nicht erreicht ist, wird die gelegentlich tödliche Krankheit bleiben. Dabei sollte man nicht ausser Acht lassen, dass der Impfstoff keine Heilung bringt, sondern «nur» Schutz. Der Mensch vergisst von Natur aus schnell und wir werden im Sinne einer neuen Normalität vermutlich wieder so weiterleben wie vor der Pandemie. Nicht vergessen sollten wir jedoch, dass das Virus stetig seinen «Wirt» sucht. Trotzdem bin ich optimistisch, dass wir die Krise in den Griff bekommen. In einer durch die Krise digitaler gewordenen Welt können wir nun mit dem Start der Impfungen hoffnungsvoll in eine bessere Zukunft schauen.
Förderung des Austausches
Xian Chu Kong wurde 1973 in Foshan (Südchina) geboren und kam 1984 in die Schweiz und wuchs in beiden Kulturen auf. Er ist Gründer und Leiter von WaKong, einer Organisation zur Förderung des interkulturellen Austausches zwischen China und der Schweiz, und Direktor des ChinaHouse Basel, Sissach (BL), das Ausstellungen und Veranstaltungen zum besseren Verständnis der chinesischen Kultur, speziell der klassischen chinesischen Kunst, in der Schweiz organisiert und beherbergt. (nfz)