Toni Obrist ist ein Sulzer mit Leib und Seele

  15.07.2020 Persönlich, Sulz

«Murer Toni» kämpft stets mit offenem Visier

Es gab Zeiten, da hatte jedes Dorf eines oder mehrere Dorforiginale. Gibt es sie eigentlich noch, diese ganz besonderen Menschen oder sind sie längst der Gleichschaltung zum Opfer gefallen? Wodurch zeichnet sich überhaupt ein Dorforiginal aus?

Dieter Deiss

Die Antwort darauf gibt vielleicht der Sulzer Toni Obrist, kurz «Murer Toni» genannt. Er könnte ein Überbleibsel dieser seltenen Gattung Mensch sein. Toni Obrist ist ein Sulzer durch und durch. Hier ist er geboren, hier wohnt und lebt er seit 75 Jahren und hier gedenkt er zu bleiben bis an sein Lebensende. Er könnte es sich schlichtweg nicht vorstellen, jemals von Sulz wegzuziehen.

Ein geschätzter Betreuer
Das Corona-Virus hat nun bei Toni Obrist früher als geplant seine Kontroll- und Betreuungstätigkeit bei der Abfallsammelstelle beim Lagerhaus Sulz beendet. Eigentlich wollte er erst im September dieses Jahres mit dem Erreichen des 75. Altersjahres zurücktreten. Als der Gemeinderat ihn kürzlich anfragte zur Wiederaufnahme der Arbeit, habe er abgewunken. So war also der 23. März sein letzter Arbeitstag. Seit 2007 war er zu den Öffnungszeiten der Sammelstelle, abwechslungsweise mit einem Kollegen, verantwortlich für einen geordneten Betrieb. Obwohl für die Ordnung verantwortlich, fühlte er sich nicht als Aufseher, sondern als Dienstleister für die Bewohnerinnen und Bewohner der Gemeinde. «Wenn jemand seinen Abfall am falschen Ort deponierte, wies ich ihn freundlich auf seinen Fehler hin», führt er zu seiner Arbeit aus. Die Abfallsammelstelle mit dem breiten Angebot werde von den Leuten ausserordentlich geschätzt, berichtet er.

«Ich hatte stets ein gutes Verhältnis zu meinen Kunden», führt er aus. «Geärgert haben mich Leute, die auf «Bschiss» aus waren. So habe ihn einmal jemand nach einem Plastiksack gefragt. Während er diesen im Lagerhaus holen ging, habe der Betreffende illegal Abfall entsorgt. Solches sei aber sehr, sehr selten passiert. Ernsthafte oder gar schwerwiegende Auseinandersetzungen mit den Abfalllieferanten hätte er nie gehabt. Auf der Suche nach seinem verlorenen Handy sei ein Mann zu ihm gekommen, nachdem er dieses zuhause vergebens gesucht hatte. Er befürchte, dass das Handy zusammen mit dem Karton in den Container gerutscht sei. Toni Obrist öffnete den Container, durchwühlte den Kartonhaufen und tatsächlich, das verlorene Handy kam zum Vorschein.

Legendär sind die Jahresenden in der Sammelstelle. Jeweils am letzten Abgabetag des Jahres überraschte Toni Obrist seine Kundschaft mit einem Gläschen «Bürgermeister». Bekannt war er auch wegen seiner Hilfsbereitschaft. So scheute er sich nicht, selbst Hand anzulegen, wenn schwere Dinge entsorgt werden mussten. «Ich würde es missen, wenn ich diese Aufgabe nicht übernommen hätte. Ich habe viele schöne Erinnerungen daran und erhielt zahlreiche Dankesbezeugungen», blickt er auf seine Arbeit in der Abfallsammelstelle zurück.

Schlichter im Streit
Geprägt hat den Sulzer insbesondere auch das Amt des Friedensrichters, das er während 23 Jahren ausgeübt hatte. Hier müsse man einfühlsam sein und spüren, ob die Klienten überhaupt eine Lösung anstreben. Fehlte der Wille zu einer Lösung und beharrten eine oder beide Parteien stur auf ihrem Recht, dann könne man seine Bemühungen relativ rasch abbrechen. «Für den Friedensrichter ist aber stets eine grosse Befriedigung, wenn er ein Problem lösen kann», betont er. Auch in dieser Aufgabe konnte Obrist seine Menschenkenntnis und seine Erfahrung einbringen. Die Leute müssten spüren, dass man ihnen helfen will.

Zum Amt des Friedensrichters kam er eher unverhofft. Es sei üblich, dass die politischen Parteien Kandidatinnen und Kandidaten für dieses Amt vorschlagen. Toni Obrist war viele Jahre Ortsparteipräsident der SVP und sass auch im Vorstand der Bezirkspartei. Der Auftrag der Bezirkspartei, jemanden für eine Nachfolge als Friedensrichter zu suchen, war erfolglos. Da habe ihn der damalige Bezirksparteipräsident kurzerhand und ohne sein Wissen als Kandidat gemeldet. «Obwohl überraschend für mich, habe ich dann die Aufgabe übernommen. Es war eine lehrreiche und schöne Zeit», hält er rückblickend fest.

Jahrelang an vorderster Front für die SVP engagiert, geht er heute eher etwas auf Distanz. So ist Toni Obrist nicht mehr Parteimitglied. «Ich war nie ein sturer Parteigänger, andere Parteien haben auch gute Ideen», meint er dazu. «Nicht selten wich ich von der offiziellen Meinung ab.» Insbesondere der Zürcher Flügel mit seinen teils radikalen Forderungen bereite ihm zunehmend Mühe. Er werde auch bei der bevorstehenden Begrenzungsinitiative der SVP ein Nein in die Urne legen. «Ich sage nicht zu etwas ja, wo es danach der Schweiz schlechter geht», betont er.

Das Politisieren schon früh gelernt
Das Politisieren habe er in der Landwirtschaftlichen Schule gelernt. «Beim damaligen Rektor Werner Keller gab es Schülerversammlungen. Diese mussten die Schüler leiten und Vorträge halten. An diesen Aufgaben hatte ich Freude und ich spürte, dass ich bei meinem Publikum jeweils gut ankam», erzählt er. Insbesondere habe er damals gelernt, seine Sicht der Dinge offen auszudrücken. So ist es denn nicht verwunderlich, dass Toni Obrist an Gemeindeversammlungen immer wieder das Wort ergreift. «Ich mag es nicht, wenn Meinungen hintenherum gemacht werden», wird er deutlich. Leider sei dies heute noch viel zu oft der Fall. Freilich habe er mit seiner offenen Art auch schon den Kopf angeschlagen, gibt er unverblümt zu. Er habe sich nie von anderen «gängeln» lassen, wird er deutlich.

Typisch dazu die Haltung von Toni Obrist zum Zusammenschluss von Laufenburg und Sulz, der damals ein engagierter Gegner dieses Projekts war. Der Entscheid war für den Sulzer eine grosse Enttäuschung. Auf die Frage, weshalb er sich denn heute für die zusammengeschlossene Gemeinde engagiere, wie beispielsweise in der Ortsbürgerkommission, meint er: «Nach dem für mich unerfreulichen Ausgang der Abstimmung, habe ich den Mehrheitsbeschluss zur Kenntnis genommen. Jetzt will ich meinen Beitrag leisten für die neue Gemeinde.» Allerdings verhehlt er nicht, dass er den Ausgang der damaligen Abstimmung nach wie vor bedauert und betont gleichzeitig: «Persönlich musste ich überhaupt keinerlei Nachteile in Kauf nehmen, im Gegenteil, ich sehe eigentlich nur Vorteile. Es ist ganz einfach das Emotionale, das mich heute noch bewegt.»

Wechsel in die Agrarchemie
Auch beruflich stellte Obrist seinen Mann. Nach Absolvierung der Ausbildung zum Landwirt half er im elterlichen Landwirtschaftsbetrieb. Daneben arbeitete er im Sulzer Forst. Der elterliche Bauernhof, mitten im Dorf gelegen, reichte jedoch nicht aus zur Existenzsicherung. Toni Obrist nutzte eine sich ihm bietende Chance und trat in den Agrarbereich der damaligen Ciba ein. Er betreute Versuchspflanzen und wertete von der Forschung angeordnete Versuche aus. Seine landwirtschaftliche Ausbildung kam ihm dabei sehr zustatten. Interessant übrigens: Im Laufe seiner beruflichen Tätigkeit wechselte sein Bereich von Ciba, über Ciba-Geigy, Novartis bis zu Syngenta. Insgesamt fünfmal habe er einen anderen Arbeitgeber erhalten, sein Garderobekasten blieb jedoch immer derselbe. Als dann 2005 der von ihm betreute Agrarbereich nach England verlegt wurde, machte er nicht mehr mit: «Einen alten Baum soll man nicht mehr verpflanzen», sagte er seinem Vorgesetzten und ersuchte um vorzeitige Versetzung in den Ruhestand.

Man könnte noch viel erzählen über den «Murer-Toni». So war er wie schon sein Vater, aktives Mitglied und Ehrenmitglied im TV Sulz, er präsidierte die Männerriege und während 15 Jahren stand er den Vereinigten Vereinen von Sulz vor. Aber auch der Gemeinde stand er zur Verfügung, sei es als Vizekommandant der Feuerwehr oder Chef der Zivilschutzorganisation. Als Mann der ersten Stunde gehörte er der Arbeitsgruppe «rund um sulz» an. Was er jedoch zusammen mit seiner Frau Annemarie zeitlebens nicht mochte, das sind längere Ferienaufenthalte, schon gar nicht im Ausland. Dafür kennt er «seinen» Wald, sei dies von Spaziergängen oder von der Jagd, wo er viele Jahre gerne gesehener Treiber war. Noch heute gehört er den Fricktaler Jagdhornbläsern an, mit denen er vor zwei Jahren Schweizer Meister wurde.


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