«Die Sorge um die Umwelt steht im Mittelpunkt»
29.01.2020 Persönlich, RheinfeldenRaphaël Carmeli ist einer der Pioniere in der Bioladen-Szene der Schweiz. Er hat schon zahlreiche Geschäfte an verschiedenen Orten geführt. Seit 2011 ist er in Rheinfelden tätig – seine bisher grösste Herausforderung.
Valentin Zumsteg
Wir treffen Raphaël Carmeli in seinem Bioladen «L‘Ultimo Bacio» am Obertorplatz in Rheinfelden. Seit 2011 führt er dieses Geschäft, das früher unter dem Namen «zum Nektar» bekannt war. Hier gibt es eine grosse Auswahl an Bioprodukten, zirka 3000 verschiedene an der Zahl. Carmeli hat in seiner langen Laufbahn schon zahlreiche Läden betrieben. «Ich habe mich früh mit Umweltfragen auseinandergesetzt. Als in den 1970er-Jahren der Bericht des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums erschien, hat mich das sehr beschäftigt», erzählt der heute 57-Jährige. Mit 16 Jahren gehörte er zu den Mitgründern eines so genannten Drittwelt-Ladens in Winterthur. Ein Jahr später war er, der in einem Kinderheim aufgewachsen ist, Mitinitiant eines Bioladens.
«Ich kenne die Produzenten persönlich»
«Gelernt habe ich Landvermesser. Das war aber eine Verlegenheits-Ausbildung. Ich habe nach der Lehre nie auf diesem Beruf gearbeitet», erklärt er mit einem Lachen. Stattdessen hat er sich ganz in den Dienst der Verbreitung von Bio-Lebensmitteln gestellt. «Mich interessierte seit jeher die Frage, wie wir die menschliche Ernährung sicherstellen und wie wir Lebensmittel produzieren können, welche diesen Namen verdienen.» Er setzt sich für umweltgerechten Anbau und faire Bedingungen in der ganzen Wertschöpfungskette ein. «Die Sorge um die Umwelt steht für mich im Mittelpunkt.»
Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte hat er unter anderem Bioläden im Tessin, in Graubünden, Luzern und Obwalden geführt. Er kennt die Bio-Szene und ihre Entwicklung wie kaum ein Zweiter. «In der Anfangszeit wurden wir häufig belächelt und teilweise gar angefeindet. Wir waren damals als Körnlipicker und linke Phantasten verschrien. In Winterthur ist bei unserem Laden sogar einmal eine Fensterscheibe eingeschlagen worden. Wir stiessen oft auf Unverständnis.»
Vor neun Jahren kam er nach Rheinfelden, weil er in die Nordwestschweiz ziehen wollte. Hier hat er Freunde und Bekannte. Carmeli hat das Geschäft in Rheinfelden in einer schwierigen Zeit übernommen. «2011, kurz nach der Vertragsunterzeichnung, sackte der Eurokurs von 1,40 auf fast einen Franken hinunter. Das bekamen wir stark zu spüren. Der Umsatz halbierte sich», erzählt Carmeli. Die Konkurrenz im nahen Deutschland war nun plötzlich massiv günstiger. Er setzte stark auf regionale Produzenten, hat viele Bauern persönlich besucht und kennt daher ihre Geschichten.
Als sich die Situation langsam zu bessern anfing, kam der nächste Schock: Im Januar 2015 gab die Schweizerische Nationalbank den Euro-Mindestkurs von 1,20 Franken, der 2011 eingeführt worden war, überraschend auf. Dies kurbelte den Einkaufstourismus nach Deutschland erneut stark an. «Wir hatten zu nagen. 2018 ging es finanziell wirklich schlecht, ich musste die Betriebskosten noch einmal massiv senken sowie die Pensen der Mitarbeiterinnen weiter kürzen», so Carmeli. Im vergangenen Jahr entschloss er sich deshalb, Teil des Verbundes von «L‘Ultimo Bacio» zu werden. Aktuell gehören sechs Bioläden dazu, die alle eigenständig wirtschaften, aber beim Marketing, der Buchhaltung und in der Sortiments- und Ladengestaltung eng zusammenarbeiten. Die Unternehmensphilosophie lautet: «Unsere Leidenschaft ist das Leben, das Lieben, das laute Feiern und stille Geniessen. Unsere Läden sollen Treffpunkt sein, wo jung und greis, chic und wild, alternativ und adrett sich begegnen. Bio ist für uns nicht Religion, sondern viel mehr, selbstverständlich immer lust- und geschmackvoll.» Um zu einem Treffpunkt zu werden, sind vermehrt kulturelle Veranstaltungen oder gemeinsames Kochen im Laden geplant. Die Zusammenarbeit scheint Früchte zu tragen. «Wir konnten den Umsatz wieder steigern und damit den Trend kehren. Wir sind wirtschaftlich aber noch nicht über dem Berg. Dieser Aufschwung wäre nicht möglich, ohne das tolle Team und eine wirklich treue Kundschaft», sagt Carmeli, der heute in Zuzgen wohnt. Drei Mitarbeiterinnen unterstützen ihn mit Teilzeitpensen.
Trotz einigen wirtschaftlichen Widrigkeiten in den vergangenen Jahren bereut er seinen Wechsel nach Rheinfelden nicht. «Dies ist eine grosse Herausforderung, der ich mich gerne stelle.» Die offene Haltung vieler Menschen im Dreiländer-Eck gefällt ihm sehr. «Rheinfelden ist ein wunderschönes Städtchen, adrett und mit hoher Lebensqualität.»
«Bio als Lifestyle»
Themen wie Umweltschutz und menschgemachter Klimawandel sind heute in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Auch Bio-Lebensmittel fristen kein Nischendasein mehr. «Sie gehören für viele zum Lifestyle. Davon profitieren aber vor allem die Grossverteiler und Discounter, die auch Bio anbieten. Wir müssen daher immer einen Schritt voraus sein», erklärt Carmeli. Er ist überzeugt, dass sich die Menschheit mit biologischer Landwirtschaft ernähren liesse. «Dazu sollten wir jedoch unsere Ernährung und unsere Gewohnheiten etwas anpassen.» Dass dies möglich wäre, davon ist Carmeli überzeugt.
Auch nach vielen Jahrzehnten in dieser Branche macht ihm die Arbeit immer noch Freude. «Die vielen Begegnungen mit Menschen erfüllen mich in dieser Aufgabe. Wir erledigen hier keinen Job, sondern leben unsere Überzeugung und engagieren uns hierfür.» Er will sich weiterhin für gute Lebensmittel und eine intakte Umwelt einsetzen.