«Wir stossen in der Regelschule an Grenzen der Integration»
14.08.2025 FricktalDer Kanton hat seit Jahren zu wenig Sonderschulplätze
Im Aargau fehlen Hunderte Sonderschulplätze. Auf das neue Schuljahr reagierte der Kanton mit kurzfristigen Sofortmassnahmen. Das reicht nicht aus, findet Carole Binder-Meury. Die Magdener SP-Grossrätin ist Vorstandsmitglied der Kreisschule Unteres Fricktal und selbst Lehrerin.
Valentin Zumsteg
NFZ: Frau Binder, die Anmeldungen an die Sonderschulen haben im Aargau massiv zugenommen, sie übersteigen das Angebot deutlich. Der Kanton reagiert mit Sofortmassnahmen. Was sagen Sie als Lehrerin und Bildungspolitikerin dazu?
Carole Binder-Meury: Das Problem ist seit langem bekannt. Ich bin der Meinung, dass im Aargau in dieser Sache zu wenig geschieht. Der Kanton will aber die Sonderschulplätze reduzieren und die integrativen Klassen fördern. Das ist grundsätzlich eine gute Sache. Fakt ist aber, dass es immer mehr Kinder und Jugendliche mit einer Autismus-Spektrum-Störung gibt und für diese Kinder muss gesorgt werden. Wenn sie einen Sonderschulplatz brauchen, müssen wir dem Rechnung tragen.
Die Sonderschulquote liegt im Kanton Aargau mit 2,5 Prozent deutlich über dem schweizerischen Durchschnitt von 1,9 Prozent. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Dafür habe ich keine Erklärung, das müsste wissenschaftlich untersucht werden. Ich denke aber, die Autismus-Problematik nimmt massiv zu, dort könnte der Kern liegen. Ich höre auch immer wieder, dass die Autismus-Quote im unteren Fricktal besonders gross ist. Die Gründe dafür kenne ich nicht. Das ändert aber nichts daran, dass diese Kinder und Jugendlichen Anrecht auf eine passende Beschulung haben. Der Schulpsychologische Dienst des Kantons weist jeweils den Sonderschulstatus aus, das machen nicht die Schulen oder Gemeinden. Ich weiss nicht, wie dies gesteuert werden könnte. Was klar ist: Wir stossen in der Regelschule an Grenzen mit der Integration. In der Primarschule gelingt dies häufig noch, aber bei der Oberstufe wird es schwieriger, insbesondere auch, weil die Kreisschule Unteres Fricktal eine sehr grosse Schule ist. Das überfordert viele Jugendliche mit einer Beeinträchtigung.
Bereitet Ihnen diese Entwicklung Sorge?
Ja, das bereitet mir Sorgen, auch weil ich zwei, drei Fälle nahe miterlebt habe. Die Not der betroffenen Familien ist gross. Sie sind dringend auf Hilfe angewiesen, doch es gibt zu wenig Fachleute und Schulen, die darauf spezialisiert sind – gerade beim Autismus-Spektrum. Die Kinder leiden teilweise sehr stark – und mit ihnen die Familien. Das geht teilweise bis zu Suizidgedanken. Das ist eine sehr schwierige Situation für alle Beteiligten.
Der Kanton rechnet damit, dass in diesem Schuljahr für rund 200 Kinder, die angemeldet wurden, kein Sonderschulplatz zur Verfügung steht. Wie gross ist das Problem?
Das Problem ist riesig. Darauf habe ich als Grossrätin schon seit langem mehrfach hingewiesen. Es bräuchte zusätzliche Plätze, die kosten aber Geld. Es ist schwierig, dies im Parlament durchzubringen. Im Juni – also sehr kurzfristig – hat jetzt der Kanton beschlossen, dass regionale Spezialklassen geschaffen werden sollen. Das erachte ich als sinnvoll. Diese sind für Kinder gedacht, die aus verschiedenen Gründen nicht integrierbar sind. Wichtig bleibt dennoch, dass grundsätzlich die Durchlässigkeit gewährleistet wird. Wenn ein Kind Fortschritte macht, soll die Möglichkeit bleiben, dass es zurück in die Regelklasse wechseln kann. Es ist sehr wichtig, dass solche Angebote auch im Fricktal geschaffen werden.
«Ein neues Förderangebot geschaffen»
Fortsetzung
An der Kreisschule Unteres Fricktal in Rheinfelden ist auf das Schuljahr 2025/26 ein Förderangebot geschaffen worden, das sich an Schülerinnen und Schüler mit Autismus-Spektrum-Störung richtet. Carole Binder-Meury, Grossrätin und Mitglied des KUF-Vorstands, schildert die Idee dahinter.
Valentin Zumsteg
NFZ: Frau Binder-Meury, Sie sind Vorstandsmitglied der Kreisschule Unteres Fricktal. Wie sieht dort die Situation betreffend Schülerinnen und Schülern mit besonderen Bedürfnissen aus?
Carole Binder-Meury: An der Kreisschule arbeiten wir grundsätzlich integrativ, was aber immer wieder zu schwierigen Situationen führt. Deswegen ist jetzt auf das Schuljahr 2025/26, das am Montag begonnen hat, ein neues Förder angebot geschaffen worden. Dort können die Schülerinnen und Schüler mit einer Autismus-Spektrum-Störung betreut werden. Das Angebot ist durchmischt für Real-, Sek- und Bez-Schüler. Sie sind also in einer Regelklasse, können aber nach Bedarf das Förderangebot in Anspruch nehmen. Es soll eine Rückzugsmöglichkeit sein. Wir wollen, dass sie sich an der Kreisschule wohl fühlen.
Wie wird dies finanziert?
Wir finanzieren dies mit den regulären Ressourcen der KUF, dafür bekommen wir nicht zusätzlich Geld vom Kanton. Das Angebot ist mit acht bis zwölf Schülerinnen und Schülern gestartet.
2024 haben Sie im Grossen Rat ein Postulat eingereicht, das von der Regierung eine Gesamtstrategie fordert, die den Hauptfokus auf eine interdisziplinär ausgerichtete Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit einer Autismus-Spektrum-Störung richtet. Was ist in dieser Sache gegangen?
Es haben bereits mehrere Gespräche stattgefunden. Die Idee ist, dass es spezifische, dezentrale Kompetenzzentren für Kinder und Jugendliche mit einer Autismus-Spektrum-Störung geben soll. Dies in enger Zusammenarbeit mit dem Schulpsychologischen Dienst. Es wäre wichtig, dass es auch im Fricktal eine solche Stelle geben wird. Ich hoffe, dass es vorwärts geht. Der Kanton Aargau ist bei diesem Thema stark im Rückstand. (vzu)
Was ist Autismus?
Die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) ist eine neurologische Entwicklungsstörung, die sich durch Unterschiede in Kommunikation, sozialer Interaktion und Verhalten zeigt. Menschen mit ASS können besondere Interessen, wiederholende Verhaltensweisen und sensorische Empfindlichkeiten haben. Die Ausprägungen sind sehr unterschiedlich – von leichter Beeinträchtigung bis zu starkem Unterstützungsbedarf. (nfz)