«Wir müssen so wirtschaften, dass alle davon profitieren können»
28.12.2024 BrennpunktKrisen und Kriege dominieren die Schlagzeilen. Soziologe Ueli Mäder, der in Rheinfelden lebt, sieht aber auch Gründe für Optimismus. Was ihn zuversichtlich stimmt, erklärt er im Interview.
Valentin Zumsteg
NFZ: Herr Mäder, steht die Welt am ...
Krisen und Kriege dominieren die Schlagzeilen. Soziologe Ueli Mäder, der in Rheinfelden lebt, sieht aber auch Gründe für Optimismus. Was ihn zuversichtlich stimmt, erklärt er im Interview.
Valentin Zumsteg
NFZ: Herr Mäder, steht die Welt am Abgrund?
Ueli Mäder: Wir haben neue Gefahren, die mir zu denken geben und die wir so nicht vorhersahen. Von einem Abgrund möchte ich nicht sprechen. Wir sind näher als auch schon an der atomaren Bedrohung. Aber es ist wichtig, einen Schritt zurückzutreten und in längeren Zeiträumen zu denken. Wenn wir das tun, sehen wir: Die Chance, dass wir die Kurve noch kriegen, war wahrscheinlich selten so bedroht und dennoch so gut wie heute. 1968 gab es beispielsweise den Vietnamkrieg, den Biafra-Krieg, die Niederschlagung des Prager Frühlings und noch vieles mehr. Gleichwohl war die Hoffnung damals grösser, denn die Gesellschaft und die Wirtschaftsordnung veränderten sich. Aber Krieg und Kriegstote gab es damals – und im ganzen 20. Jahrhundert – viel mehr als heute. Das soll keine Banalisierung der aktuellen Kriegslage sein, aber den historischen Rahmen aufzeigen.
Das tönt hoffnungsvoll. Sind Sie eigentlich ein Optimist oder neigen Sie eher zum Pessimismus?
Ich staune manchmal, dass ich immer noch eine gewisse Zuversicht habe, aber ich habe sie. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass ich schon älter bin und mich an früher erinnern kann. Damals waren die gesellschaftlichen Zwänge viel stärker. Heute leben wir zum Glück in einer pluralistischen Gesellschaft. Ich habe deswegen den Eindruck, dass die jüngeren Leute in vielfältigeren sozialen Strukturen sozialisiert werden. Dies erhöht ihre Fähigkeit zu differenzieren. Oder praktischer ausgedrückt: Obwohl ich gerne beklage, dass unsere Welt immer konsumorientierter und geldgetriebener wird, erlebe ich täglich Leute, die sich gar nicht so verhalten. Leute, die im Gegenteil sehr sozial sind und sich für andere engagieren. Jedes Jahr werden in der Schweiz über neun Milliarden Stunden an unbezahlter Arbeit geleistet. Die Bereitschaft, Hand anzulegen zum Beispiel bei der Pflege von Angehörigen oder im Sport, ist enorm gross. Das gibt mir eine gewisse Zuversicht. Menschen sind lernfähig, Gesellschaften sind auch lernfähig. Vielleicht bin ich – etwas überzeichnet – ein Optimist im Sinne eines Pessimisten, der nachgedacht hat.
Sie sagen, Krisen und Kriege gab es immer. Fehlt heute der positive Zukunftsglaube?
In den 1960er-Jahren war der Aufbruch der Nachkriegs-Zeit deutlich zu spüren. Wir haben begonnen, die Welt als Gesamtes wahrzunehmen. Der politische Liberalismus hat die Arbeit als etwas Wichtiges betrachtet, das sich in einem ausgewogenen Verhältnis zum Kapital bewegen muss. Dieser Konsens hat viel ermöglicht. Heute ist das anders, der Wirtschaftsliberalismus dominiert. Es wurde in den letzten Jahren stark daraufgesetzt, dass das Kapital und die Verschärfung der Konkurrenz die Welt besser machen könnten. Diese Konzeption, die sehr stark zu einer Ökonomisierung aller Lebensbereiche geführt hat, zeitigt Folgen. Diese holen uns heute ein. Wir verschleudern mehr Ressourcen, als sich regenerieren können. Da stossen wir an Grenzen. Es gibt eine extreme Zunahme der Flüchtlingsströme, von 15 auf über 80 Millionen weltweit. Das hat mit diesem einseitigen Globalismus zu tun. Es ist jetzt sehr interessant, wie wir damit umgehen. Manche schotten sich ab, suchen das Heil im Provinzialistischen. Andere finden, dass wir strukturell demokratische Prozesse fördern und wieder etwas bescheidener werden könnten. Klar scheint: Wir müssen so wirtschaften, dass alle davon profitieren können.
«Was wir brauchen, ist ein offener Dialog»
Ueli Mäder moderierte eine neue Gesprächsreihe im Fricktal
Dort, wo unterschiedliche Menschen zusammenkommen, wird das Verbindende gefördert. Dies erklärt Soziologe Ueli Mäder. Ab Januar ist er Gastgeber der neuen Gesprächsreihe «Kultur und Gesellschaft» in Rheinfelden.
Valentin Zumsteg
NFZ: Herr Mäder, viele Leute fühlen sich ohnmächtig angesichts der Weltlage. Was kann der Einzelne tun, um sich aus der Ohnmacht zu befreien?
Ueli Mäder: Zuerst müssen wir die Ohnmacht, wenn wir sie spüren, zulassen. Es bestehen Ängste, die berechtigt sind. Wir sollten aber auch im Blick haben, dass Veränderungen zum Guten möglich sind. Ohnmacht ist dann schwierig, wenn wir uns ins Schneckenhaus verkriechen. Es gibt auch das Gegenteil: Dass wir aus einer Ohnmacht heraus einfach nach vorne flüchten und alles beschönigen. Beides ist nicht sehr produktiv. Eine pragmatische Haltung wäre, das Schwierige zuzulassen, aber nicht zu verzagen. Jeder Schritt, der weiterführt, ist ein wichtiger Schritt. Wir merken dann, dass wir nicht allein unterwegs sind. Wenn wir so leben und neugierig bleiben, können wir eine Wirkung erzielen.
Fühlen Sie sich selbst manchmal ohnmächtig?
Mich berühren die aktuellen Krisen sehr und es tut mir weh, wenn ich sehe, was zum Beispiel im Nahen Osten alles geschieht. Ich war schon ein paar Mal dort und habe Vorträge gehalten. Wenn von den Krisen berichtet wird, dann sehe ich Menschen vor mir. Die heutige negative Entwicklung ist so unnötig, habe ich immer das Gefühl. Die Menschheit hätte heute Möglichkeiten wie noch selten, friedlich zusammenzuleben. Umso unverständlicher ist die aktuelle Lage. Was mich trotzdem zuversichtlich stimmt, sind aber positive Erfahrungen im sozialen Aufeinanderzugehen.
Ihre Arbeitsschwerpunkte an der Uni Basel waren soziale Ungleichheit und Konfliktforschung. Haben Sie ein Rezept, um die Welt zu einem friedlicheren Ort zu machen?
Entscheidend dabei ist die soziale Ungleichheit, die leider in Teilbereichen zugenommen hat. Wo die Kluft zwischen Arm und Reich zunimmt, gibt es mehr Kriminalität und mehr soziale Spannungen. Je tiefer das Einkommen, desto höher die gesundheitlichen Belastungen, dies hat das Bundesamt für Gesundheit auch in der Schweiz festgestellt. Es ist daher wichtig, dass wir strukturell die Lage verbessern und zwar weltweit. Kriege haben viel mit sozialer Ungleichheit zu tun. Es braucht mehr sozialen Ausgleich. Was ich auch feststelle: Es gibt heute die Tendenz, dass wir bei Konflikten sofort eine Haltung haben, noch bevor wir nachdenken konnten. Was wir aber brauchen, ist ein offener Dialog und Austausch. Wir stolpern immer über die Dinge, die uns trennen, statt dass wir das Verbindende suchen. Häufig stören uns bei den anderen die Sachen, die wir bei uns unter dem Deckel halten. Oder wir überlegen uns bei einem Gespräch sofort die Antwort, statt dass wir dem anderen wirklich zuhören und ihn zu verstehen versuchen. Zuhören und verstehen wollen, das sind ganz einfache Rezepte, die aber auch bei grossen Konflikten helfen können.
Wie müsste sich die neutrale Schweiz im Ukraine-Krieg verhalten?
Die Schweiz muss ihre Geschichte der Geschäftsneutralität kritisch betrachten. Die Haltung der Schweiz in der Welt ist viel weniger hilfreich als sie sein könnte und ich mir wünsche. Sie sollte sich für ein gerechteres Welthandelssystem einsetzen, denn Ungleichheit führt zu gefährlichen Konf likten. Das würde zur Glaubwürdigkeit der Schweiz beitragen. Was ich auch nicht verstehe: Die Schweiz hat den UNO-Atomwaffenverbotsvertrag von 2021 nicht unterzeichnet. Die Schweiz müsste mehr dafür tun, um in schwierigen Konflikten vermitteln zu können. Im Ukraine-Krieg ist völlig klar, dass die Schweiz die russische Aggression verurteilen muss. Das gehört zu einer aktiven Neutralität. Wenn man jetzt aber einfach versucht, das Problem mit Mitteln zu lösen, die sie mitverursacht haben, dann bringt dies wenig. Wenn wir den Ukraine-Krieg zum Anlass nehmen, weltweit noch mehr aufzurüsten, dann ist das sehr eindimensional und kann zu einer weiteren Gefährdung führen.
Die Weltlage scheint so unsicher wie schon lange nicht mehr, der Schweiz geht es aber gut. Was kann unser Land tun, um einen Beitrag für eine friedliche Zukunft zu leisten?
Wir müssen alles dafür tun, um Abrüstungsbemühungen und friedliche Kooperationen zu fördern. Dass die Direktbetroffenen dies nur beschränkt selbst angehen können, verstehe ich. Aber Länder wie die Schweiz, die selbst nicht direkt involviert sind, müssten mehr unternehmen, um die Kontrahenten an einen Tisch zu bringen.
Sie beschäftigen sich nicht nur mit der Weltlage, sondern engagieren sich immer wieder lokal, zum Beispiel mit Gesprächsrunden. Was motiviert Sie dazu?
Meine Motivation ist, dass ich jeden Tag etwas lernen kann. Zudem leiste ich gerne einen Beitrag, zum gemeinsamen Nachdenken. Mich interessiert es sehr, wie die Leute denken. Dort, wo unterschiedliche Menschen zusammenkommen, wird das Verbindende gefördert. Das gibt interessante Gespräche, gerade in einer Zeit, in der das Polarisierende zunimmt.
Ihre neue Diskussionsreihe in Rheinfelden heisst «Kultur und Gesellschaft». Wie sehen Sie die Rolle der Kultur in unruhigen Zeiten?
Wenn wir mit Kultur unseren Horizont erweitern und dabei vielleicht auch merken, dass wir nicht der Nabel der Welt sind, kann das sehr helfen. Die Kultur soll dazu beitragen, Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten.
Sie leben seit längerem in Rheinfelden. Was macht das Städtchen für Sie besonders?
Ich habe Freude, in Rheinfelden zu leben. Es gibt hier, so ist mein Eindruck, viel soziales Engagement und eine tragende Verbindlichkeit. Das Funktionieren der Gemeinwesen ist etwas so Wichtiges. Dafür braucht es aber auch die nötigen Strukturen.
Was war für Sie persönlich 2024 das schönste Erlebnis?
Mich berührt, dass ich immer noch mit Esther, meiner ehemaligen Kindergartenfreundin, zusammen bin und wir seit 1968 zusammenwohnen. Ich kann das jeden Tag geniessen. Eine gewisse Kontinuität kann manchmal lebendiger sein, als wenn man das Gefühl hat, jeden Tag etwas Neues machen zu müssen. Man muss aber neugierig und wertschätzend bleiben.
Zum Schluss: Was wünschen Sie sich für das neue Jahr?
Ich hoffe stark, dass wir als Gesellschaft unsere weltweite Verantwortung wahrnehmen und das soziale Miteinander weiter fördern. Ich halte das für möglich. Das ist für uns alle die beste Perspektive.
Ueli Mäder
Ueli Mäder, 1951 in Beinwil am See geboren, ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Basel und der Hochschule für Soziale Arbeit. Seine Arbeitsschwerpunkte sind soziale Ungleichheit und Konfliktforschung. Er wurde 2022 mit dem Erich-Fromm-Preis ausgezeichnet. Ueli Mäder lebt mit seiner Frau in Rheinfelden. (nfz)
Neue Reihe «Kultur und Gesellschaft»
Das Hotel Schützen in Rheinfelden lädt zu einer neuen Diskussionsreihe mit dem Titel «Kultur und Gesellschaft» ein. Die monatlichen Veranstaltungen richten sich an eine breite Öffentlichkeit. Sie dienen dazu, soziale Zusammenhänge besser zu verstehen und friedliche Prozesse zu fördern. Soziologe Ueli Mäder führt jeweils mit einer Fachperson ein vertiefendes Gespräch zu einem aktuellen Thema. Dabei interessieren auch persönliche Lebenserfahrungen und Erkenntnisse.
Los geht es am Mittwoch, 29. Januar, um 19.30 Uhr, im Jugendstilsaal. Gast ist der Publizist Roger de Weck. Der frühere Direktor der SRG geht auf sein neues Buch «Das Prinzip Trotzdem» und darauf ein, «warum wir den Journalismus vor den Medien retten müssen». De Weck war einst Chefredaktor des Tages-Anzeigers und der Hamburger «Die Zeit».
Der Eintritt ist frei, mit Anmeldung: Tickets sind an der Rezeption (vor Ort), über diverse Vorverkaufsstellen und online erhältlich: www.schuetzenhotels.ch/de/">https://www.schuetzenhotels.ch/de/ entdecken. Abendkasse und Einlass eine halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn.