«Wir machen nicht nur Schadensbegrenzung»
05.01.2024 LaufenburgSandra Wey und Jonas Häusermann zur Arbeit von Beistandspersonen
Sandra Wey ist seit elf Jahren Stellenleiterin der Jugend- und Familienberatung. Jonas Häusermann stiess im April 2020 dazu. Beide sind im Bezirk Laufenburg sowohl als Beistandspersonen im Bereich Kindesschutz ...
Sandra Wey und Jonas Häusermann zur Arbeit von Beistandspersonen
Sandra Wey ist seit elf Jahren Stellenleiterin der Jugend- und Familienberatung. Jonas Häusermann stiess im April 2020 dazu. Beide sind im Bezirk Laufenburg sowohl als Beistandspersonen im Bereich Kindesschutz als auch in der freiwilligen Beratung tätig. Und beide sagen: «Es gibt viel Schönes und Positives in unserem Arbeitsalltag.»
Simone Rufli
NFZ: Beistandschaften im Bereich Kindesschutz – das ist kein einfaches Arbeitsgebiet. Dazu kommt, dass die Arbeit öffentlich immer wieder kritisiert wird. Warum tut man sich das an?
Jonas Häusermann: Weil die Mischung aus unterschiedlichen Aufgabengebieten attraktiv und spannend ist. Klar, wir sind fachbezogen auf den Kindesschutz spezialisiert, aber in diesem Rahmen breit im freiwilligen und gesetzlichen Kontext tätig. Und öffentlich werden meist nur die wenigen Fälle, die nicht gut laufen. Kaum Erwähnung findet, dass es in der freiwilligen Beratung, wo sich viele an uns wenden, ohne vom Familiengericht dazu verpflichtet worden zu sein, viel Positives und Schönes gibt.
Sandra Wey: Positives und Schönes gibt es aber auch bei den gesetzlich angeordneten Beistandschaften. Manchmal ist ein Fall am Anfang sehr komplex, kompliziert und es brennt. Dann mitzuerleben, wie positive Veränderungen stattfinden, kann sehr eindrücklich sein. Erfreulich ist auch, wenn wir empfehlen können, eine Massnahme aufzuheben und sich die Familie weiter und freiwillig von uns beraten lässt. Dies ist deshalb möglich, weil im Gemeindeverband des Bezirks Laufenburg die Aufgaben im Kindes- und Erwachsenenschutz von zwei Stellen wahrgenommen werden: Während der Kindes- und Erwachsenenschutzdienst (KESD) die Erwachsenenschutzmandate führt, ist die Jugend- und Familienberatung (JFB) in der freiwilligen Beratung und im gesetzlichen Kindesschutz tätig.
Veränderungen mit Kindern passieren manchmal sehr schnell. Können Sie schnell genug reagieren?
Jonas Häusermann: Das täuscht. Veränderungen brauchen immer Zeit. Zu erwarten, dass, nach Errichtung einer Beistandschaft, nach zwei Wochen alle Probleme gelöst sind, ist nicht realistisch. Wir müssen zuerst mit den Eltern und ihren Kindern in Beziehung treten und uns einen Überblick verschaffen. Was ist unser Auftrag und unsere Rolle? Was sind die Anliegen der Betroffenen? Wo gibt es Sachen, die gut funktionieren? Das ist ein wichtiger Aspekt, denn es ist nie alles negativ.
Sandra Wey: Wir gehen grundsätzlich davon aus, dass jeder Mensch Ressourcen hat, um sein Leben selbst gestalten und sich positiv entwickeln zu können. Auch Eltern in schwierigen Lebensbedingungen haben Fähigkeiten und den Willen, ihre Kinder gut zu versorgen. Manchmal ist jedoch der Zugang zu den Ressourcen durch Probleme verstellt. Dann ist es unsere Aufgabe, die Familie zu unterstützen, den Weg wieder freizuräumen. Allein dass die Personen sich öffnen und unsere Hilfe annehmen, ist der Beweis dafür, dass sie etwas ändern wollen.
Viele Fälle brauchen demnach viel Zeit. Haben Sie genug davon?
Sandra Wey: So wie wir hier im Bezirk Laufenburg aufgestellt sind, kann ich versichern, dass wir nicht einfach nur Schadensbegrenzung machen. Wir sind in der Lage, veränderungsorientiert zu begleiten – auch wenn wir mehr Ressourcen gebrauchen könnten. Wir sind uns immer bewusst, dass unsere Arbeit umsonst ist, wenn es uns nicht gelingt, tragfähige Beziehungen mit den Betroffenen aufzubauen.
Jonas Häusermann: Dazu gehört, dass wir uns mit schnellen Ratschlägen zurückhalten. Es gibt keine allgemeingültigen Rezepte. Kein Fall ist wie der andere. Es braucht immer individuelle Lösungen.
«Es braucht keine grossen Wunder»
Fortsetzung des Interviews mit Sandra Wey und Jonas Häusermann
Es gebe viele schöne Momente bei der Arbeit im Bereich Kindesschutz, kleine Fortschritte bis hin zur Aufhebung von Massnahmen und doch sei ihnen bewusst, dass jede Lösung ihren Preis hat.
Simone Rufli
NFZ: Eine Beziehung aufbauen, wenn eine Gefährdungsmeldung am Anfang steht und das Familiengericht eine Massnahme verhängt hat – das stelle ich mir schwierig vor.
Jonas Häusermann: Weil Sie davon ausgehen, dass die betroffenen Personen sich mit Händen und Füssen wehren, mit uns ins Gespräch zu kommen. Das erleben wir auch, aber nicht häufig. In der Regel finden wir gut zusammen. Denn auch bei gesetzlich angeordneten Massnahmen gibt es Handlungsspielraum. Und nicht zu vergessen: Unser Ziel ist es, die Betroffenen so zu stärken, dass die Massnahme wieder aufgehoben werden kann.
Sandra Wey: Kommen wir im Auftrag des Familiengerichts ins Spiel, handelt es sich immer um eine Einmischung in das Privatleben von Familien. Die Betroffenen wissen zuerst nicht, was auf sie zukommt. Das würde mir nicht anders ergehen. Der erste Gedanke ist oft, jetzt werden mir die Kinder weggenommen. Sie merken dann aber schnell, dass es nicht darum geht. Mir hat eine Frau vor Jahren einmal gesagt: «Nichts gegen Sie, Frau Wey, aber mir passt es nicht, dass Sie jetzt hier in meinem Wohnzimmer sitzen. Ich will das nicht.» Zu dieser Frau habe ich heute noch Kontakt. Ich bin immer wieder beeindruckt und habe Respekt davor, wie Familien mit gewissen Situationen umgehen.
Jonas Häusermann: Widerstand ist legitim und beweist ein Engagement. Es ist verständlich, dass Familien keine Einmischung wünschen. Oft ist es hilfreich, Klarheit zu schaffen, die Betroffenen über unsere Arbeitsweise, Grenzen und Möglichkeiten zu informieren.
Sandra Wey: Bei allem Fach- und Bücherwissen das wir haben, am Ende ist unsere Haltung entscheidend, mit der wir den Menschen begegnen. Der Dialog, die Begegnung auf Augenhöhe und der konsequente Blick auf die vorhandenen Ressourcen sowie die grösstmögliche Beteiligung der Eltern und ihrer Kinder stehen im Mittelpunkt.
Auf der Suche nach dem Besten für das Kind.
Sandra Wey: Und das ist immer eine Gratwanderung. Wir sind meist nicht vor Ort und bekommen nie alles mit. Trotzdem sind die Erwartungen der Familien und Fachpersonen an uns Beistandspersonen erfahrungsgemäss hoch. Wir sind uns aber bewusst, dass es bei Interventionen und Schutzmassnahmen nie die perfekte Lösung gibt und jede Lösung ihren Preis hat. Die Frage ist immer, was ist der kleinste Preis für das schutzbedürftige Kind, das verwurzelt ist, das eine Bindung zu den Eltern hat.
Jonas Häusermann: Ich gebe gerne ein Beispiel. Ich hatte mit einem Vater zu tun, der sich in einem emotionalen Ausnahmezustand befand und seine damals zwei- und dreijährigen Kinder verwahrlosen liess. Ich habe den Fall notfallmässig als Beistand übernommen, nachdem das Familiengericht – aufgrund einer Gefährdungsmeldung – dringenden Handlungsbedarf erkannt hat. Mir blieb keine Zeit, mich mit der Familiensituation näher zu befassen. Auch war unklar, wie der Vater auf die gerichtlich verfügte Kindesschutzmassnahme reagieren würde. Unter Polizeischutz wurde dem Vater eröffnet, dass seine Kinder vorübergehend fremdplatziert werden müssen. Erst nach dieser Einmischung konnte ich zum Vater eine Beziehung aufbauen. Dabei spürte ich, dass die Kinder trotz allem eine enge Beziehung zum Vater haben. Wir haben dann dafür gesorgt, dass er die Kinder sehr schnell regelmässig besuchen konnte. Aber das sind schon sehr belastende Situationen, die emotional nahegehen.
Wie gehen Sie damit um?
Jonas Häusermann: Indem ich das im Team bespreche. Reflexion und Austausch im Team sind bei unserer Arbeit wichtig. Denn die Unsicherheit, ob es richtig war, was wir getan haben, die begleitet uns. Bei diesem Vater habe ich miterlebt, dass es richtig war. Ich habe die ersten Besuche bei den Kindern begleitet. Inzwischen sind die Kinder wieder beim Vater. Weil er von Anfang an ernstgenommen wurde, konnte er mit der Zeit erkennen, dass die Fremdplatzierung aufgrund seines Ausnahmezustands in dem Moment richtig und wichtig war.
Sandra Wey: Klar sein, Perspektiven aufzeigen und unsere Handlungen verstehbar machen, das ist wichtig, im Kontakt mit den Familien genauso wie mit allen im Fall involvierten Personen. Zum Beispiel Schule, Psychologen, Angehörige, Schulsozialarbeit. Wir sind sehr gut vernetzt, mit den Gemeinden im Bezirk und mit Fachpersonen.
Wir erleben auch immer wieder Überschneidungen mit anderen Fachstellen, die es zu koordinieren gilt. Es braucht nicht immer das Familiengericht, denn es ist durchaus möglich, Verbindlichkeiten und Veränderungen auch im freiwilligen Kontext zu schaffen.
Diese Kompetenz haben Sie?
Sandra Wey: Wenn wir durch andere Fachstellen hinzugezogen werden, haben wir die Kompetenz, den Eltern mitzuteilen, dass wir besorgt sind, dass sich etwas ändern muss, und falls das nicht passiert, auf die möglichen Auswirkungen hinzuweisen. Beispielsweise, dass das Familiengericht eingeschaltet werden müsste. Wichtig ist, die Eltern nicht auf Defizite zu reduzieren, sondern sie zu stärken und in der Lösungsfindung einzubeziehen.
Die Fallzahlen steigen. Beunruhigt Sie das?
Sandra Wey: Ja. Entscheidend ist jedoch die Verteilung. Im Jahr 2015 hatten wir zwei Drittel gesetzliche Fälle und einen Drittel freiwillige. Heute ist das Verhältnis genau umgekehrt. Unsere Arbeit besteht zu zwei Dritteln aus der Beratung in freiwilligen Fällen. Das ist eine erfreuliche Entwicklung. Für einen Fall im gesetzlichen Bereich benötigen wir fünf- bis sechsmal so lang wie für einen freiwilligen Fall. Und das nicht, weil gesetzliche Fälle intensiver sind, sondern vor allem, weil viel mehr Player involviert sind, weil wir viele Berichte und Stellungnahmen verfassen müssen, weil oft Anwälte beigezogen werden. Es ist deshalb wichtig, dass wir uns auch weiterhin aktiv vernetzen und unser freiwilliges Beratungsangebot bekannt machen. Je früher die Unterstützung erfolgen kann, desto weniger einschneidende Interventionen werden nötig.
Und umso kürzer die Zeit bis zu einem Entscheid.
Jonas Häusermann: Auf jeden Fall. Ein freiwilliger Fall braucht keinen Gerichtsentscheid, der dann noch angefochten werden kann, braucht keine Ernennungsurkunde, um mit der Arbeit starten zu können.
Sandra Wey: Wir legen auch grossen Wert darauf, dass wir keine Warteliste haben. Auch wenn ein Rückruf oder die Kontaktaufnahme nur im Notfall sofort erfolgen kann, vereinbaren wir zeitnah einen Beratungstermin. Allein das entlastet Betroffene oft schon.
Familien heute und früher. Was für Veränderungen stellen Sie fest?
Sandra Wey: Eine zunehmende Orientierungslosigkeit bei Jugendlichen und Kindern. Häufig fehlen Zuwendung, Anerkennung und eine Perspektive. Immer mehr Menschen tun sich schwer, in einer herkömmlichen Struktur zu bleiben. Peers, Gruppen von Gleichaltrigen dagegen, sind gut organisiert und bieten den Halt, den die Jungen anderswo häufig nicht mehr finden. Das kann zum Problem werden. Ein grosses Thema ist auch der Schulabsentismus, und zwar schon bei Primarschulkindern.
Jonas Häusermann: Es ist alles schneller. Man kann sich sehr schnell organisieren. Bei Mobbing ist die Geschwindigkeit ein Problem. Der Zugang zu Drogen, auch zu harten Substanzen, ist einfacher geworden mit den sozialen Medien.
Sandra Wey: Nicht immer positiv ist der Einfluss der digitalen Medien. Stars machen ihre psychischen Erkrankungen öffentlich und begünstigen Selbstdiagnosen bei den Jugendlichen. Wo trifft eine Diagnose zu und wo wird einfach einem Idol nachgeeifert? Wo geht es um den Leidensdruck und wo um Likes?
Jonas Häusermann: Der Medienkonsum ist ein Dauerproblem. Wird ein Bild nicht geliked, eine Anfrage nicht beantwortet, kann das Auswirkungen aufs Selbstbild haben.
Wie passt der Schulabsentismus da rein?
Sandra Wey: Die Frustrationstoleranz nimmt ab. Eine negative Bemerkung einer Lehrperson oder von Mitschülern kann reichen und ein Kind weigert sich, zur Schule zu gehen. Dazu kommen die veränderten Lernformen mit mehr Selbstverantwortung. Nicht alle Kinder können damit umgehen und erhalten zu Hause erforderliche Hilfeleistungen.
Jonas Häusermann: Umgekehrt gibt es heute an vielen Orten gut ausgebaute Schulsozialarbeit, Tagesstrukturen, Mittagstisch, Aufgabenhilfe. Das sind positive Entwicklungen.
Positiv ist ein gutes Stichwort. Was sind für Sie schöne, erfreuliche Momente bei der Arbeit?
Sandra Wey: Wenn ich Jahre später von irgendwo in der Schweiz einen Anruf bekomme von einem ehemaligen Jugendlichen, dessen Beiständin ich war. Wenn Eltern Jahre später erzählen, wie sie alles erlebt haben und dass wir sie hilfreich unterstützen konnten. Und besonders hervorzuheben ist die beispielhafte Solidarität aller Bezirksgemeinden im oberen Fricktal. Dafür sind wir dankbar, denn sie ist nicht selbstverständlich.
Jonas Häusermann: Ich bin beeindruckt von Eltern mit einem kleinen Kind, die in der Beratung extrem zerstritten waren und die doch wieder zusammengefunden haben. Sie wohnen heute wieder zusammen, sorgen für ihre gemeinsamen Kinder. Schön ist es auch, wenn Jugendliche vorbeikommen und erzählen, wie gut es bei ihnen läuft. Es braucht keine grossen Wunder, kleine Veränderungen ziehen oft mehr nach sich.