«Wir haben fünfmal die beste Person gefunden»
25.09.2024 Persönlich, EffingenDr. Ernst Kistler gehörte zum Schulheim Effingen, jetzt tritt er ab
«Ich war immer dienend, nie der Mittelpunkt», sagt Ernst Kistler. Der Brugger Anwalt und Notar war jahrzehntelang und bis vor wenigen Tagen Stiftungsratspräsident des Schulheims Effingen.
...Dr. Ernst Kistler gehörte zum Schulheim Effingen, jetzt tritt er ab
«Ich war immer dienend, nie der Mittelpunkt», sagt Ernst Kistler. Der Brugger Anwalt und Notar war jahrzehntelang und bis vor wenigen Tagen Stiftungsratspräsident des Schulheims Effingen.
Simone Rufli
Ernst Kistler hätte es gerne gesehen, wenn sich die Esel fürs Foto von vorne anstatt von der Seite gezeigt hätten. Doch an diesem Nachmittag sind sie stur. «Dann eben nicht», sagt er und lächelt in die Kamera. Keiner weiss besser als Ernst Kistler, dass es nicht darum geht, etwas zu erzwingen; nicht bei Eseln und schon gar nicht bei den Buben, die im Schulheim in Effingen wohnen.
Bis vor wenigen Tagen war der Anwalt und Notar aus Brugg Präsident der Stiftung, die vor vielen Jahren als Meyer’sche Rettungsanstalt und mit einem Geschenk von 100 000 Franken von Elisabeth Meyer-Siegrist (1806–1873), Witwe des grössten Steuerzahlers aus Brugg, gegründet worden war und der Ernst Kistler seit 1987 angehörte. Im Jahr 2017 feierte das Schulheim das 150-Jahr-Jubiläum. Längst vorbei sind die Zeiten, als Heime zur Armutsbekämpfung gegründet wurden und Armut als selbstverschuldetes Übel betrachtet wurde, die sich mit Erziehung bekämpfen lasse.
Bald offen für Mädchen?
Heute wird der Betrieb des Heims durch den Kanton Aargau finanziert, mit Unterstützung des Bundes. Das Schulheim Effingen ist eines von wenigen vom Bundesamt für Justiz anerkannten Heimen im Aargau. Das entlastet den Kanton finanziell, verlangt vom Heim aber auch, dass 75 Prozent des sozialpädagogischen Personals mindestens einen Fachhochschul-Abschluss hat. Alle vier Jahre formuliert der Kanton zusammen mit dem Heim neue Ziele in der Leistungsvereinbarung. Mit dem Geld aus dem «Kässeli» der Stiftung wird nur noch bezahlt, was im normalen Budget keinen Platz hat. Stimmen Aarau und Bern dem derzeit noch in Arbeit befindlichen Konzept zu, steht das Schulheim ab dem 1. Januar 2026 auch Mädchen offen.
Von den Buben beschenkt
Höhepunkte habe es in all den Jahren viele gegeben, blickt Ernst Kistler zurück. «Dazu zählte für mich jeweils die Suche nach einem neuen Heimleiter. Fünfmal habe ich mitgeholfen, die beste Person zu suchen.» Erst im Dezember 2023 Christoph Söffge, der seine Stelle als Gesamtleiter des Schulheims am 1. April 2024 angetreten hat. Wunderschön und ein Höhepunkt, «der mich zutiefst bewegt und gerührt hat», sei Anfang September die Abschiedszeremonie gewesen, erzählt Ernst Kistler. «Es ist unglaublich, was mir die Buben und die Mitarbeitenden an Emotionen, an Gebasteltem und Gedichtetem, Gesungenem und Geschriebenen geschenkt haben.» Zu den Höhepunkten zählt er auch die enge Zusammenarbeit mit Tierpädagogen und die Wirkung, die Pferde, Esel, Hühner und Co. auf die Entwicklung der Buben haben. Eine weitere Freude: die Bautätigkeit; angefangen im Jahr 2011 hat sie mehrere Etappen umfasst. Im September 2016 wurde das neugestaltete Heimgelände eingeweiht. Noch viel schöner sei für ihn aber etwas anderes: «Wenn ich die Strasse entlanglaufe, einer auf mich zukommt, mich begrüsst und mir sagt, er sei hier im Schulheim gewesen und es gehe ihm heute gut.» Er kenne die meisten Buben im Heim. «Da freut man sich, wenn man sieht, dass die Arbeit Erfolg hat und der Einsatz der Mitarbeitenden Wirkung zeigt.» Manche Stiftungen seien weit weg von den Betroffenen, sagt Christoph Söffge. «Ernst Kistler kam oft am Montagmorgen zur Wochen-Begrüssung ins Heim und gab den Jungs in knappen Worten drei Punkte mit auf den Weg. Und er schaffte es jedes Mal, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen.»
Gut aufgestellt
Auch wenn er dem Heim stets verbunden bleibe – unter anderem dank Ernesto, Esel Nummer vier, «den meine Frau und meine ältere Tochter dem Heim zum Abschiedsgeschenk machen – jetzt ist der richtige Zeitpunkt, Jüngeren Platz zu machen», so der 73-Jährige. «Das Heim ist gut aufgestellt, es hat gutes Personal, engagierte Mitarbeitende, und an der Spitze hat es mit Tobias Fässler nun wieder einen Stiftungsratspräsidenten, der zieht. Und», Ernst Kistler lächelt verschmitzt, «ich muss mir nicht mehr das ganze Jahr über Gedanken machen, was für eine Geschichte ich den Buben an der Weihnachtsfeier erzählen könnte.»
In seine Zeit als Stiftungsratspräsident fiel in den 1990er-Jahren auch die Schaffung von Kriseninterventions-Aussenplätzen, die 2013 wieder abgeschafft wurden. Jeder Junge im Heim hatte «seine» Familie auf einem Hof im Emmental. «Heute gehen wir mit Krisen anders um», erklärt Christoph Söffge. «Wenn etwas nicht funktioniert, schicken wir die Kinder nicht mehr fort. Wir lösen das Problem vor Ort.» Wichtig sei auch immer wieder klarzumachen: «Unser Heim ist keine Strafanstalt. Es geht einzig darum, den Kindern und Jugendlichen ein Umfeld zu bieten, das sie – aus welchen Gründen auch immer – in der Herkunftsfamilie nicht vorfinden.»
Vom Rand in die Mitte
«Ich war immer dienend, nie der Mittelpunkt», sagt Ernst Kistler. «Effingen gehört zu meiner Heimat. Ich war als Kind schon in Begleitung meiner Eltern hie und da im Schulheim zu Besuch». Als Brugger habe es ihm denn auch das Herz gebrochen, als Effingen, Elfingen und Bözen bei der Fusion mit Hornussen zur Gemeinde Böztal dem Bezirk Brugg den Rücken kehrten und sich dem Bezirk Laufenburg zugewandt hätten. Er wünscht sich, dass das Schulheim, trotz seiner Lage an der Fricktaler Peripherie, «im Bewusstsein der Bevölkerung etwas mehr ins Zentrum rückt».