Wenn jeder Tag plötzlich 36 Stunden hat
27.12.2024 BrennpunktWer Demenzkranke aus der Tagesstätte abholt, sollte nicht fragen, wie der Tag war. «Denn sie haben es schon wieder vergessen», sagen zwei Frauen, die es wissen müssen. Ein Besuch in der Tagesstätte des Aargauer Roten Kreuzes in Frick.
Für Monika ...
Wer Demenzkranke aus der Tagesstätte abholt, sollte nicht fragen, wie der Tag war. «Denn sie haben es schon wieder vergessen», sagen zwei Frauen, die es wissen müssen. Ein Besuch in der Tagesstätte des Aargauer Roten Kreuzes in Frick.
Für Monika Wiederkehr, Leiterin der Tagesstätte in Frick und des Tageszentrums in Aarau sowie Monika Thommen, Fachverantwortliche fürs Tagesgeschehen am Standort Frick, ist das Vergessen ihrer Gäste ein ganz normaler Zustand. Genauso normal, wie deren Fehleinschätzung. «Demenzkranke erleben sich als gesund. Haben wir eine Grippe, wissen wir, dass wir krank sind. Wer an Demenz erkrankt, hat keine Einsicht ins eigene Kranksein.» Angehörige müssten lernen, über den Kopf von Demenzkranken hinweg Entscheide zu fällen. «Verhandeln bringt nichts.» Genauso wichtig sei es zu begreifen, dass Orte mit Gefühlen und nicht mit konkreten Erlebnissen verbunden seien. «Gute Gefühle entstehen in der Tagesstätte über gemeinsame Tätigkeiten. Kochen, rüsten, backen, singen, musizieren; jeden Mittag eine Bewegungssequenz, ab und zu ein Tanz-Kaffee. Beschäftigungen, die Spass machen und einen tiefen Sinn haben – Sturzprophylaxe zum Beispiel.»
Vorbeugen sollten auch die Angehörigen, empfehlen die beiden Frauen. «Es ist wichtig, Hilfe anzunehmen, denn sonst riskieren Angehörige, selber zu erkranken. Wenn sie sich bei uns melden, haben sie bereits einen grossen Schritt gemacht und erkannt, dass sie Entlastung brauchen.» Nicht selten sei das mit schlechtem Gewissen verbunden. «Da ist es wichtig, dass wir die Angehörigen bestärken, beraten und in ihrem Prozess begleiten.» Natürlich biete die Tagesstätte ein professionelles Tagesstruktur-Angebot für Demenzkranke, «in erster Linie aber ist es ein Entlastungs-Angebot für Angehörige. Wir spüren eine grosse Wertschätzung, dabei ist es umgekehrt: wir sind ein kleiner Teil im Gefüge und wertschätzen die immense Arbeit der Angehörigen.»
«Der Aufenthalt tut meiner Frau gut»
«Entlastung muss man lernen», wissen Monika Wiederkehr und Monika Thommen. So wie Hans Mayer aus Magden, der froh ist, diesen Schritt getan zu haben. Zweimal pro Woche fährt er vom unteren ins obere Fricktal, um seine an Demenz erkrankte Frau in der Tagesstätte in Frick betreuen zu lassen. «Der Aufenthalt», sagt er im Gespräch mit der NFZ, «tut meiner Frau gut. Sie ist immer aufgestellt, wenn ich sie abhole.» Auch ihm täten die freien Stunden gut. Noch viel wichtiger aber für die Bewältigung des anspruchsvollen Alltags sei, dass er sich in der Rotkreuz- Tagesstätte mit den Fachpersonen und auch mit anderen Betroffenen austauschen könne. «Wir reden über unsere Erfahrungen, machen uns gegenseitig Mut, lachen gemeinsam und entwickeln Strategien, um im Alltag zurechtzukommen.» Zu diesem Alltag gehört auch der Umgang mit dem Freundes- und Bekanntenkreis, der manchmal einen ganz anderen Blick auf die Situation habe. «Wir wissen alle nicht, wieviel meine Frau noch mitbekommt. Aber sie wie ein Kleinkind anzusprechen, ist auf jeden Fall falsch.»
«Eine Tagesstätte ist nie kostentragend»
«Der Krankheitsverlauf bei Demenz ist so schwerwiegend, dass man die Betreuung in der Regel nicht bis zum Tod daheim leisten kann», sagt Monika Wiederkehr. «Es kommt immer der Punkt, wo es daheim nicht mehr geht und unsere Gäste in ein Heim müssen.» Bis zu welchem Punkt die Tagesstätte mit den Angehörigen mitgeht, sei individuell. «Wir unterstützen sie in der Entscheidungsfindung. Wir machen ihnen nichts vor, geben unsere Beobachtungen an sie weiter und empfehlen, wenn es so weit ist, auch die Anmeldung fürs Pflegeheim.»
«Wobei Pflegebedürftigkeit für den Aufenthalt in der Tagesstätte grundsätzlich kein Hinderungsgrund ist», betont Monika Wiederkehr. Der Fahrdienst des Aargauer Roten Kreuzes (ARK) hilft beim Transport, der Entlastungsdienst bei anderen Verrichtungen, Spitex, Hausärzte, Kirchgemeinden – die Vernetzung mit anderen Institutionen sei gut und helfe über viele Hürden hinweg. Die beiden Frauen schätzen besonders die Zusammenarbeit zwischen dem ARK und der Benz’schen Stiftung, den beiden Trägerorganisationen der Tagesstätte. Wenn man irgendwo von Problemen sprechen könne, dann im finanziellen Bereich: «Eine Tagesstätte kann nie kostentragend betrieben werden. Pflegestühle und viele andere Hilfsmittel sind teuer. Um den Betrieb zu finanzieren, sind wir auf Spenden angewiesen.» Die finanzielle Situation sei auch dafür verantwortlich, dass trotz steigender Nachfrage nach Betreuungsplätzen im Kanton Aargau kein ausreichendes Angebot vorhanden sei. «Wir hoffen, dass die Gesellschaft und die Politik irgendwann so weit sind, dass solche Einrichtungen unterstützt werden. Denn, wenn wir alt werden wollen, müssen wir uns als Gesellschaft mit dem Thema Demenz befassen.» Genauso wichtig ist den beiden Frauen die Ausbildung von jungen Menschen. In Kooperation mit der Spitex bietet die Tagesstätte in Frick deshalb ein Kurzpraktikum für Spitex-Lernende an.
Weit über das Leistbare hinaus
Nichts kann die Situation von Angehörigen eindrücklicher veranschaulichen, als wenn Monika Thommen und Monika Wiederkehr vom 36-Stunden-Tag sprechen. 36 Stunden, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr. «Weil sie weit über das Leistbare hinausgehen, werden Angehörige von Menschen mit Demenz oft einsam oder selber krank. Das ist ein grosses Problem.» Hans Mayer hat es geschafft, diesen 36-Stunden-Tag zweimal pro Woche zu durchbrechen. «Meine Frau braucht mich rund um die Uhr. Aber wir erleben auch heute noch immer wieder sehr schöne Momente miteinander.» Für sie beide stimme es so, wie es ist. «Ich habe mit meiner Frau zusammen diverse Pflegeheime besucht, bin dann aber zum Schluss gekommen, dass ich meine Frau daheim behalte, solange ich ihr mehr bieten kann als ein Heim.» Und mit einer Stimme, die grosse Dankbarkeit ausdrückt: «Sie hat mir 50 Jahre lang den Rücken freigehalten, damit ich meine beruf lichen Ziele erreichen konnte. Jetzt ist es an mir, sie zu unter stützen.»
Hans Mayer hält inne und schmunzelt. «Ich bin ein Zahlenmensch und habe im Umgang mit Gefühlen vieles lernen müssen.» Während dreiviertel Jahren reiste er nach Allschwil, wo er in einem Seminar lernte, über Gefühle und Augenkontakt zu kommunizieren. Das sei wichtig gewesen. «Seit zwei Jahren kann meine Frau nicht mehr verbal kommunizieren. Parallel dazu entfernt sie sich immer weiter in ihre eigene Welt. Eine Verständigung ist nur noch auf emotionaler Ebene möglich.» Solange es ihm möglich ist, will Hans Mayer seine Frau auf ihrem Weg begleiten. «Die Tagesstätte ist für mich von unschätzbarem Wert.»
Platz in der Gesellschaft behalten
Inzwischen habe er auch den Lehrgang Pflegehelfende des Schweizerischen Roten Kreuzes absolviert, erzählt er und betont: «Fachliche Kompetenz allein genügt nicht. Als Gesellschaft müssen wir lernen, Demenzkranke nicht wie Kleinkinder zu behandeln, sondern als Menschen, die eine andere Sprache sprechen.» Monika Wiederkehr und Monika Thommen formulieren es so: «Diese Leute haben in ihrem Leben einen grossen Beitrag an die Gesellschaft geleistet. Sie haben es verdient, anständig betreut zu werden und einen Platz in der Gesellschaft zu behalten.»
Das Angebot der Tagesstätte Frick
Die Tagesstätte, die 2006 an der Maria-Theresia-Gasse in Frick eröffnet wurde, richtet sich an betagte oder demente Personen, die regelmässige Tagesstrukturen mit Betreuung benötigen. Sie ist von Montag bis Freitag von 8 bis 17 Uhr geöffnet. Getragen wird sie von der Benz’schen Stiftung zusammen mit dem Schweizerischen Roten Kreuz (SRK) Kanton Aargau.
In der Tagesstätte arbeitet ein Team von Fachpersonen und Freiwilligen. Die Betreuung kostet 115 Franken pro Tag. Für Härtefälle gewährt das Aargauer Rote Kreuz einen ermässigten Tarif. Angehörige erhalten Unterstützung beim Ausfüllen des Antragsformulars.
Pro Tag können 14 Personen betreut werden. Schnupperbesuche sind erwünscht und jederzeit möglich. Die Tagesstätte hilft auch in spontanen Not situationen mit einem Platz oder telefonischer Beratung.
Um den Betrieb zu finanzieren, ist das Aargauer Rote Kreuz auf Spenden angewiesen. (sir)