«Wir schliefen inmitten toter Menschen»
28.03.2025 BrennpunktÜber 350 Personen strömten am Mittwochabend in die Aula der Schulanlage Engerfeld in Rheinfelden. Zwei Stunden später verliessen sie den Saal, tief berührt. Auf Einladung der Klasse 3b berichtete Ivan Lefkovits über einen schrecklichen Teil seiner Kindheit.
...Über 350 Personen strömten am Mittwochabend in die Aula der Schulanlage Engerfeld in Rheinfelden. Zwei Stunden später verliessen sie den Saal, tief berührt. Auf Einladung der Klasse 3b berichtete Ivan Lefkovits über einen schrecklichen Teil seiner Kindheit.
Janine Tschopp
Zusammen mit seinem älteren Bruder und seinen Eltern sei er «in schöner, ruhiger Umgebung» in einem Ort in der heutigen Slowakei aufgewachsen. «Irgendwann wurde mir bewusst, dass etwas nicht stimmte», erzählte Ivan Lefkovits, der einer jüdischen Familie angehörte, weiter. Der kleine Junge spürte, dass seine Familie «nicht zur Mehrheit der Gesellschaft gehörte und ausgegrenzt wurde». Als 1943, Ivan Lefkovits war damals sechs Jahre alt, der Moment der Einschulung gekommen war, hiess es, dass jüdische Kinder nicht zur Schule gehen dürften. So brachte ihm seine Mutter lesen, schreiben und rechnen bei.
Vater wurde in Ungarn ermordet
Die Deportation jüdischer Menschen war in vollem Gang, als Ivan Lefkovits und sein Vater nach Budapest flüchteten. «Meine Mutter und mein Bruder hätten uns folgen sollen.» Als er die Grenze überschritt, wurde Ungarn durch die deutsche Wehrmacht besetzt. Ivan Lefkovits kam zurück in die Slowakei, sein Vater wurde in Ungarn ermordet. Nach seiner Rückkehr wurden er, sein Bruder und seine Mutter verhaftet und ins Konzentrationslager nach Ravensbrück deportiert. «Essen war vorhanden, aber wenig. Die Leute wurden von Tag zu Tag dünner, und einige starben», schilderte er. Sein Bruder wurde in Ravensbrück ermordet, während seine Mutter und er in ein Konzentrationslager nach Bergen-Belsen evakuiert wurden. «Jede der Baracken war mit Menschen überf lutet und wir wurden feindlich empfangen.» Es kamen immer mehr Menschen dazu und zu essen gab es immer gleich wenig. Viele Menschen konnten sich vor Hunger nicht mehr bewegen und starben. «Wir schliefen inmitten toter Menschen.»
Anfang April 1945, als Deutschland den Krieg praktisch verloren hatte, gab man das Lager in Bergen-Belsen auf und stellte Wasser und Strom ab. Ein Überleben war fast unmöglich. Als seine Mutter und er und weitere Menschen am 15. April durch die Briten befreit wurden, war er so schwach, dass er nur noch auf allen Vieren gehen konnte. Als Achtjähriger wog er neun Kilogramm. «Als uns die Briten befreien wollten, hatten sie zuerst kein Wasser dabei. Erst 48 Stunden später kamen sie wieder zurück und brachten Zisternen mit Wasser mit.» Ivan Lefkovits berichtete, dass seine Mutter und er sich, nach so langer Zeit ohne Wasser und Nahrung, kaum mehr bewegen konnten.
«Die Motivation war, zu überleben»
Während 45 Minuten erzählte der 88-Jährige von den schrecklichen Zeiten im Konzentrationslager. Im Saal war es die ganze Zeit mucksmäuschenstill.
Was ihn im Lager in Bergen-Belsen motiviert habe, weiterzukämpfen, wollte eine Schülerin nach seinem Referat wissen. «Die Motivation war, zu überleben.» Seine Mutter habe ihm schreiben und rechnen beigebracht und ihn zum Lernen motiviert. «Wenn man lernt und sich beschäftigt, spürt man keinen Hunger. Den Durst jedoch kann man nicht unterdrücken.» Von den Schülerinnen und Schülern sowie aus dem Publikum kamen sehr interessante Fragen. Jemand wollte wissen, wie es ihm gehe, während er von diesen schrecklichen Zeiten berichte. «Über gewisse Sachen kann ich mit Distanz erzählen und es berührt mich nicht. Wenn ich aber über meinen Bruder und meinen Vater nachdenke, ist es anders.»
Organisiert durch die Klasse 3b
Das Gespräch mit Ivan Lef kovits wurde durch die Rheinfelder Bez-Klasse 3b und ihrem Lehrer Tobias van Baarsen organisiert. Erst Anfang Februar habe van Baarsen von einem Lehrerkollegen erfahren, dass Ivan Lefkovits in dessen Nachbarschaft lebe. So sei der Kontakt und die Idee der Veranstaltung zustande gekommen. «Wir hätten damals nie damit gerechnet», berichtete van Baarsen am Mittwochabend.
Er bedankte sich am Ende der Veranstaltung bei allen Schülerinnen und Schülern und vielen anderen Personen, welche den Anlass ermöglicht hatten. Er blickte zum Publikum, das sichtlich berührt und bewegt war, und meinte: «Dass wir so nahe zusammensitzen, ist ganz wichtig im Moment.» Man könne die Vergangenheit nicht ungeschehen machen. Man könne aber zusammenrücken, bewusst durchs Leben gehen und sich respektvoll begegnen.
Schliesslich richtete der Lehrer das Wort an Ivan Lefkovits: «Sie haben uns etwas ermöglicht, das wir nie vergessen werden.»
Ivan Lefkovits
Nach der Befreiung im April 1945 kehrten Ivan Lefkovits und seine Mutter vorerst in die Slowakei zurück. Später zog er nach Prag, wo er Chemie studierte. In Prag lernte er auch seine Frau kennen und gründete eine Familie. Seit 55 Jahren lebt er in Basel, wo er unter anderem das Institut für Immunologie aufbaute. Als Überlebender des Konzentrationslagers Bergen-Belsen engagiert er sich für die Erinnerungskultur des Holocausts. (jtz)
Weitere Informationen unter www.last-swiss-holocaust-survivors.ch/de