Verehrtes Publikum
Denke ich an die Schulzeit zurück, kommt mir ein Satz eines Lehrers in den Sinn: «Man darf nicht loben!» Schüler würden dadurch hoffärtig, und die Bagage arbeite dann noch weniger, als sie es ohnehin schon tue. Meine preussische Mutter, die ...
Verehrtes Publikum
Denke ich an die Schulzeit zurück, kommt mir ein Satz eines Lehrers in den Sinn: «Man darf nicht loben!» Schüler würden dadurch hoffärtig, und die Bagage arbeite dann noch weniger, als sie es ohnehin schon tue. Meine preussische Mutter, die nicht zum Überschwang neigte, pflichtete dem bei. Wenn ich ausnahmsweise eine passable Note in Mathematik nach Hause brachte, hiess es: «Kein Grund zum Übermut, eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.»
Mein Vater hingegen, der in Lebensfreude talentierter als meine Mutter war, sah in solcher Benotung einen Hoffnungsschimmer. In seiner geerdeten Art meinte er: «Vielleicht wird aus dem Bengel doch noch mal was.» Schliesslich habe man schon Pferde kotzen sehen, und das direkt vor der Apotheke …
Das ging mir durch den Kopf, als ich die Ansagen der neuen deutschen Regierung betrachtete. Der mit Ach und Krach gewählte Bundeskanzler Friedrich Merz begann seine Amtszeit – nebst der Ankündigung, dass er die wilhelminische Kanonenbootpolitik fortzusetzen gedenke – mit markigen Sprüchen in Form einer allgemeinen Publikumsbeschimpfung: Er habe festgestellt, dass in Deutschland ausser ihm keiner mehr Bock auf Arbeit habe, die Leistungsbereitschaft der Bevölkerung strebe gegen Null, ein verdammenswerter Schlendrian habe sich eingebürgert! Jetzt werde durchgegriffen – er werde die Arbeiterklasse durch Verlängerung der Wochenarbeitszeit auf Vordermann bringen; die Zeiten der Work-Life-Balance seien vorbei, ab sofort werde wieder malocht!
Der CDU- Generalsekretär setzte noch eins drauf, indem er darauf hinwies, dass inzwischen sogar eine Life-Life-Balance salonfähig geworden sei und in Deutschland selbst die Rentner auf der Bärenhaut lägen, statt in die Hände zu spucken und das Bruttosozialprodukt zu erhöhen.
Ich möchte das nicht auf Deutschland beschränken. Wenn ich morgens um 5.45 Uhr aus dem Fenster schaue, sehe ich NICHT EINEN Rentner zur S1 hasten. Was machen diese Faulenzer eigentlich?
JAN PETERS