Mein kleines Dorfporträt – in scharfem Kontrast zur «Steuerhölle»
03.12.2023 FricktalGastbeitrag von Peter Bircher, Wölflinswil
Gar einen Autokauf, einen Gross-Fernseher oder die Buchung einer halben Weltreise könne man sich leisten, wenn man in Kaiseraugst statt in Wölflinswil wohne und entsprechend weniger Steuern zahlen müsse, wurde vor ein paar ...
Gastbeitrag von Peter Bircher, Wölflinswil
Gar einen Autokauf, einen Gross-Fernseher oder die Buchung einer halben Weltreise könne man sich leisten, wenn man in Kaiseraugst statt in Wölflinswil wohne und entsprechend weniger Steuern zahlen müsse, wurde vor ein paar Tagen in der Aargauer Tagespresse festgestellt. Die riesigen Steuer-Diskrepanzen im Aargau sind gewiss ein unbestritten grosses politisches Ärgernis und da schadet es nichts, wenn die Medien an grossrätliche oder andere Türen klopfen. Aber auch Mister «Zufall» schafft Begünstigungen, die zu solch gewaltigen Steuerunterschieden führen können. In Kaiseraugst ist es die chemische Industrie und die Nähe von Bau- und Industrieareal zum mehr oder weniger aufgefüllten Basel. Im oberen Freiamt liegt das extrem steuergünstige kleine Geltwil, welches vom nahen Muri und dessen Infrastruktur mächtig profitiert. Auch wenn Gemeinden wie Kaiseraugst in den horizontalen Finanzausgleich des Kantons einzahlen, bleibt per Saldo doch ein riesiges und ungerecht empfundenes Steuergefälle.
Macht eine kleine Landgemeinde, wie Wölflinswil, etwas falsch?
Ein klares Nein. Man kann das aktuell mit einem kleinen Überblick gut, wenn auch nur lückenhaft, begründen.
• Die Wohnlage ist top im Grünen mit Wald und Flur, immer mehr Bäumen, einem naturnahen Lebensraum und noch einigermassen erträglichen Baulandpreisen. Beweis für die Wertschätzung solcher Qualitäten ist der Gemeindeschreiber von Kaiseraugst, welcher in meiner Nachbarschaft wohnt.
• Das Dorf bemüht sich seit 1965, als eine gemeinnützige Wohnbaugenossenschaft gegründet wurde, für möglichst günstige und familiengerechte Mietwohnungen. Sie hat dieser Tage eine weitere Überbauung im Unterdorf beschlossen mit 12 Wohneinheiten und wird nach dieser Realisierung 50 Wohnungen verwalten. Auch die private Initiative ist hier im Wohnungsbau nie erlahmt. Neu baut ein Konsortium in der Steimet am Talbach 36 Wohnungen.
• Bei der Infrastruktur wurde dieser Tage bewiesen, dass man anpackt. Das beliebte Schwimmbädli und die Turnhalle wurden 1971 errichtet und sind nun ins Alter gekommen. Abbruch und Neubau kann sich die Gemeinde nicht leisten. Die Ortsbürger haben nun am 25. November entschieden eine Million Franken aus dem gut dotierten Waldfonds umzuwidmen und damit eine umfassende Badi-Sanierung zu ermöglichen. Bei der Turnhalle wurde ein Projektkredit von 120 000 Franken gesprochen für eine Erweiterung und Sanierung der Sportanlage.
• Im Kulturbereich wurde das Alte Gemeindehaus seit Jahren zu einem Treffpunkt, wo zum Beispiel innert 3 Wochen zwei Kunstausstellungen, ein Gesprächsabend über Berufseinstiegsfragen und am letzten Samstag das zweite Repair-Café durchgeführt wurden.
• Die Kirchenpflege unterbreitet dieser Tage ein ausgereiftes Projekt für die umfassende Sanierung und Erhaltung der Alten Pfrundscheune auf dem Stöckli. Damit soll zwischen Kirche und Pfarrhaus ein weiterer Begegnungsort entstehen.
• Der Verein «Dorf plus» plant in der Woche vor Pfingsten die zehnte Natur-und Kulturwoche 2024 unter dem Motto «Lebensraum Benkental».
• Ernsthaft wird an einer Fusion der beiden oberen Talgemeinden gearbeitet, nachdem feststeht, dass gegen dreissig kleinere und grössere Gemeindeaufgaben sukzessive seit Jahren gemeinsam oder in guter Koordination erfüllt werden. So ist auch die Gemeinschaftsverwaltung für die zwei Gemeinden seit über 50 Jahren Tatsache.
Was ist Natur und Naherholung wert?
Als der «Paradies- und Hölle Artikel» meinen Kopf etwas erglühen liess, ging ich, wie fast alle Tage, zur Morgenwanderung. Dieser besinnliche Rundgang räumt mit schnellen Konsumkäufen, wie im Presseartikel erwähnt, rasch auf. Rein materiell wird man einem Gemeinwesen, auch wenn es «nur» eine kleinere Jura-Gemeinde ist, nie gerecht. Der Gegenwert zum etwas hohen Steuerzettel ist nicht in Franken oder Gegenständen messbar. Die geschenkte Naherholung in der Natur kann nicht näher beziffert werden, auch der Wert von vielen mitmenschlichen Kontakten in einem Dorf, gemeinsamen Aktionen, Anlässen und Begegnungen, ist nicht kalkulierbar. Auch der abgebildete Lindenbaum im lichten Herbstlaub ist es nicht. Er ist fast so hoch wie der Kirchturm auf dem Stöckli. Er hat einen Stammumfang von 4,25 Metern und ich staune fast täglich, dass er auf dem steinernen Hügel sogar die letzten Hitzesommer unbeschadet überdauert hat.
20 kleinere Gemeinden sind nach der Statistik 2023 im Aargau mit Steuerfüssen von 120 Prozent und mehr konfrontiert. Tieflieger mit 65 bzw. 60 Prozent im neuen Jahr sind Kaiseraugst und Meisterschwanden. Oberwil-Lieli liegt am tiefsten mit 48 Prozent. Eine Spannweite bis zu 77 Prozentpunkten beim Steuerfuss ist massiv. Das Gros der Gemeinden ist im Bereich von 100 Steuerprozent angesiedelt.