Kohle und Tusche als Ausdrucksmittel
02.06.2025 RheinfeldenDer Versuch, ein Zeitdokument bildnerisch zum Leben zu erwecken
Berenike Weickgenannt aus Rheinfelden hat sich in ihrer Maturaarbeit mit der Geschichte ihrer Grossmutter befasst. Dies auf unkonventionelle Art. Entstanden ist ein höchst persönliches Werk, welches zum Nachdenken ...
Der Versuch, ein Zeitdokument bildnerisch zum Leben zu erwecken
Berenike Weickgenannt aus Rheinfelden hat sich in ihrer Maturaarbeit mit der Geschichte ihrer Grossmutter befasst. Dies auf unkonventionelle Art. Entstanden ist ein höchst persönliches Werk, welches zum Nachdenken anregt und bereits prämiert worden ist.
Birgit Schlegel
Überwachung, Gefängnis, Flucht. Mit unzähligen Romanen, Graphic Novels und Spielfilmen nach wahren Begebenheiten wurde versucht, sich den Lebenssituationen einzelner DDR-Bewohner anzunähern. Und damit verbunden ihrem Wunsch nach Freiheit und Demokratie. Die 19-jährige Rheinfelderin Berenike Weickgenannt hat mit ihrer Abschlussarbeit am Gymnasium Bäumlihof/Basel einen mutigen und sehr persönlichen Versuch gewagt, sich in einen derartigen Menschen einzufühlen und die daraus resultierenden Vorstellungen und Gefühlslagen mittels Skizzen und Zeichnungen darzustellen.
Grundlage ist das Zeitzeugen-Interview ihrer Grossmutter Marianne Weickgenannt über einen erst gescheiterten Fluchtversuch und die daraus resultierende Haft in einem Stasi-Gefängnis und über die schliesslich geglückte Flucht 1964, festgehalten anno 2012 in Bild und Ton von der Gedenkstätte Hohenschönhausen in Berlin.
Schon immer hat Berenike Weickgenannt gewusst, dass die Oma Zeit im Gefängnis verbracht und die Flucht durch den Tunnel der 57 unter der Berliner Mauer geschafft hat. Was dies aber alles bedeuten mag, dessen wurde sie sich erst Jahre nach dem Tod der Grossmutter bewusst, beim Sichten des Zeitzeugen-Dokumentes. Die Aufnahme des Interviews habe sie zuerst allein für sich angehört, so die Gymnasiastin. Die elterliche Unterstützung in der Auseinandersetzung war der Anstoss für Berenike Weickgenannt, diesen Teil der Familiengeschichte zu vertiefen und zum Thema der Maturaarbeit zu machen,
Zeitzeugen schreiben Geschichte
Wie gross muss der Mut zur Flucht sein, sein Leben dabei möglicherweise zu verlieren! Wie gross die Verzweiflung, im eigenen Land keine Zukunft zu sehen! Nicht nur Berenike Weickgenannt beschäftigen diese Fragen. Viele junge Leute seien sehr interessiert an der entstandenen Arbeit, meint die Schülerin. Auch im Kollegenkreis werde die momentan angespannte weltpolitische Lage thematisiert. «Ich spüre, dass viele Gleichgesinnte eine Art Angst empfinden, diese aber auch verdrängen. Trump, Klimawandel und Kriege sind schon Themen, die beschäftigen.» Weickgenannt ist deshalb sehr dankbar für ihren Geschichtslehrer am Gymi, der sich die Zeit für die Anliegen und Fragen der Klasse nimmt. Und sie ist überzeugt, dass kein Geschichtsbuch den Inhalt besser vermitteln kann, als ein persönliches Zeugnis. Man müsse sich jedoch bewusst sein, so die Gymnasiastin, dass diese Art der Geschichtsschreibung immer die subjektive Wahrnehmung der Zeitzeuginnen und -zeugen ist und auf Erinnerungen oder bewältigter Traumata beruht. «Es ist jedoch so enorm wichtig, dass dieser Teil an Geschichte, der nirgends geschrieben steht, festgehalten und vermittelt wird. Nur so kann man Geschichte lernen und vielleicht begreifen.»
Berenike Weickgenannt war schon immer kreativ, hat von klein auf viel gemalt und gebastelt. Bildnerisches Gestalten als Schwerpunktfach am Gymnasium war die naheliegende Wahl. Die Pflicht, ein Skizzenbuch bei sich zu tragen, welches am Ende des Schuljahres jeweils benotet worden ist, wurde für die Gymnasiastin zum willkommenen Experimentierfeld und hat wesentlich zur künstlerischen Weiterentwicklung beigetragen. Acrylfarbe war die dominierende Technik. Und immer wieder Kohle, Bleistift und Tusche. «Hätte meine Oma auf der Flucht ein Skizzenbuch gehabt, wie hätte es wohl ausgesehen?», so die Schlüsselfrage, die in der Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte gewachsen ist. «Mit Schwarz und Weiss können Emotionen wie Angst oder Beklemmung am besten übermittelt werden», erläutert die Schülerin ihre gewählte Zeichentechnik. «Starke hell-/dunkel-Kontraste sind möglich. Und mit Kohlestaub können Bewegungen dargestellt werden, wenn man ihn mit den Fingern verwischt.»
Vor allem auch von Käthe Kollwitz’ Kunstschaffen hat sich die Gymnasiastin inspirieren lassen. Durch ein Museumsplakat ist sie auf die Künstlerin gestossen, die durch ihre Grafiken und Zeichnungen als eine der bedeutendsten Protagonistinnen des frühen 20. Jahrhunderts gilt, und hat sich nach einem Ausstellungsbesuch nicht nur in der Wahl der Maltechnik und ihrer Ausdrucksmöglichkeiten bestätigt gesehen, sondern auch in der dargestellten Thematik: dem Verarbeiten von Verlust, Trauer und Leid als Kriegsfolge mittels Kohle, Kreide und Tusche.
Skizzen von Gefühlslagen
Nach dem Sichten und Anhören des Zeitzeugen-Interviews der erzählenden Grossmutter und einem Versuch, inhaltliche Schwerpunkte zu setzen, hat Berenike Weickgenannt drei Themenkreise formuliert, welche anschliessend in bildnerischer Form dargestellt werden sollen. Welche erwähnten Fakten sind historisch wichtig? Was war für die erzählende Oma sehr emotional und welcher Aspekt für ihre persönliche Geschichte entscheidend? Entstanden sind daraus zahlreiche sehr berührende und aussagekräftige Skizzen und Zeichnungen. Etwa eine geschlossene Gefängnistür oder der stumpfe Blick einer Person durch ihre Luke, in düsteren Grauund Schwarztönen. Eine tanzende Frauenfigur, aufgereihte Damenschuhe eleganter Machart, ein Kinderwagen, alles äusserts filigran mittels feinen Federkiels und mehrerer Konturen. Und immer wieder ein nach Hilfe ringendes Händepaar, welches beim Betrachten das eigene sein könnte.
Entstanden ist ein äusserst persönliches und emotionales Gesamtkunstwerk in Buchform, welches berührt. Umso mehr im Wissen, dass es einem noch sehr jungen Menschen gelungen ist, sich derart tiefgründig mit einem so belastenden Thema zu befassen und damit zum Nachdenken anzuregen. «Im Prinzip ist es die Aufarbeitung eines Teils meiner eigenen Geschichte. Da meine Oma so früh gestorben ist, hatte ich zuvor nicht die Möglichkeit. Ich habe das für mich so nachgeholt», meint Berenike Weickgenannt abschliessend.
Dank ihrer Prämierung am Nationalen Wettbewerb von «Schweizer Jugend forscht» und der damit verbundenen Teilnahme an der «Genius Olympiad» in New York Mitte Juni erhält Berenike Weickgenannt nun die einmalige Gelegenheit, ihre Maturaarbeit einem internationalen Gremium zu präsentieren und Kontakte mit gleichgesinnten Schülerinnen und Schülern zu knüpfen. Auch stehen bereits Überlegungen an, das Werk auszustellen und der lokalen Bevölkerung zugänglich zu machen. Viel Trubel und freudige Aufregung! Da geraten die anstehenden Maturaprüfungen gerne in den Hintergrund.