Stadtführung zum Jubiläum 125 Jahre Industrie
Weil die Muttergemeinde Nollingen überfordert war, bauten die grossen Arbeitgeber in Badisch Rheinfelden vom Kraftwerkbau ab 1897 bis nach dem Zweiten Weltkrieg selbst Wohnungen für ihre Arbeiter und übernahmen damit ...
Stadtführung zum Jubiläum 125 Jahre Industrie
Weil die Muttergemeinde Nollingen überfordert war, bauten die grossen Arbeitgeber in Badisch Rheinfelden vom Kraftwerkbau ab 1897 bis nach dem Zweiten Weltkrieg selbst Wohnungen für ihre Arbeiter und übernahmen damit die eigentliche Stadtplanung.
Boris Burkhardt
Stadtführerin Ulrike Maunz zeigte in einer einmaligen Führung anlässlich des Jubiläums «125 Jahre Industrie Rheinfelden» die Wohnhäuser in Badisch Rheinfelden, die bis nach dem Zweiten Weltkrieg hauptsächlich von den vier grossen Industriebetrieben für ihre Arbeiter gebaut wurden. Die ältesten Wohngebäude im deutschen Rheinfelden sind die beiden 1897 erbauten Beamtenhäuser und die sieben «Chemische Hüüser» mit 37 Arbeiterwohnungen aus dem selben Jahr an der südlichen Seite der Friedrichstrass auf Höhe der heutigen Firma Evonik. Als einziges dieser Gebäude ist noch eines der Beamtenhäuser, heute die Hausnummer 44, erhalten. Zum grossen Bedauern Maunzens lasse es sich wegen der Dioxinbelastung im Boden nicht renovieren, allerdings auch nicht abreissen: «Wir können nur zuschauen, wie es verfällt.»
Denn die genannten Häuser seien etwas ganz Besonderes: Walther Rathenau persönlich habe sie in Auftrag gegeben; das Stadtarchiv ist sogar im Besitz des originalen Bebauungsplans, den Rathenau unterzeichnet hat. Walther Rathenau war nicht nur Aussenminister der Weimarer Republik, der 1922, im Gründungsjahr der Stadt Rheinfelden, von Rechtsradikalen ermordet wurde; in Rheinfelden ist er mit seinem Vater Emil zusammen durch sein Engagement als Industrieller und massgeblicher Financier des Kraftwerkbaus als Stadtgründer anzusehen.
Der Unternehmer Rathenau
Walther Rathenau führte später nicht nur die väterliche Firma AEG, sondern war in Rheinfelden mit der Elektrochemische Werke Rheinfelden tätig. «Rheinfelden würdigt die Rathenaus viel zu wenig», findet Maunz. Mit dem Bau von Arbeiterwohnungen gleich mit der Ansiedlung der ersten Industrie seien sie sehr vorausblickende Unternehmer gewesen: «Emil Rathenau bat seinen Sohn, er solle um Rheinfelden Sorge tragen, weil er selbst selten hier sein konnte.»
Abgesehen von den erwähnten Häusern und dem Konsumhaus der Degussa von 1927, an dessen Stelle an der Ecke Karl-Fürstenberg-Strasse und Karlstrasse heute der Hieber steht, stehen die Arbeiterhäuser der ersten Jahrzehnte Rheinfeldens noch immer. Zu den Bauherren gehörten die vier grössten Arbeitgeber Aluminium und ihre Tochterfirma Aluminium-Industrie-Wohnbau, Degussa, Dynamit und die Kraftwerke Rheinfelden (KWR, heute Energiedienst/Naturenergie). 1908 wurde in Rheinfelden die Baugenossenschaft gegründet; des Weiteren bauten die Stadt selbst und die Städtische Wohnbau sowie weitere private und öffentliche Baugenossenschaften.
Zeitzeugen sind etwa die drei Häuser der Chemischen Fabrik Griesheim-Elektron (später IG Farben und Dynamit) von 1925 in der Hardstrasse gegenüber der Schillerschule, die Wohnhäuser der Degussa zwischen der Oberen Kanalstrasse und der Schildgasse, für deren Sockel Nollinger Muschelkalk verwendet wurde, und die Wohnhäuser der Baugenossenschaft von 1911 in der Müssmattstrasse zwischen Hardstrasse und Fritz-Roessler-Strasse.
Eine Koryphäe ist das denkmalgeschützte Haus Karl-Fürstenberg-Strasse 62 Ecke Josefstrasse: Es wurde privat nach den anthroposophischen Regeln Rudolf Steiners erbaut. Laut Maunz ist die Dachform einer Kappe typisch: «Sie soll die Bewohner beschützen.»
Auffällig findet Maunz, dass die Firmen noch lange Jahre einige Einfamilienhäuser, verteilt in der ganzen Innenstadt, besassen: Vermutlich hätten dort Kadermitarbeiter gewohnt. Offizielle «Beamtenwohnungen» und «Direktorenvillen» der heutigen Firmen Dynamit und Evonik aus den Jahren 1913 bis 1922 befinden sich neben dem erwähnten Haus an der Friedrichstrasse. Der erste Direktor der Degussa, Friedrich Jung, baute sein Haus, heute Karl-Fürstenberg-Strasse 67, mitten in die Wohnsiedlung seiner Arbeiter.