Ihr Arbeitsplatz ist ein 200 Tonnen schweres Ungetüm
07.04.2024 Persönlich, ZeihenSelin Brosy: Wechselt vom Labor in den Lokführerstand
Berührungsängste vor Menschen und Technik hat Selin Brosy nicht; Das Ungewisse ist zu ihrem Berufsalltag geworden. Die gelernte Chemielaborantin und Milizfeuerwehrfrau hat einen ungewöhnlichen Berufswechsel ...
Selin Brosy: Wechselt vom Labor in den Lokführerstand
Berührungsängste vor Menschen und Technik hat Selin Brosy nicht; Das Ungewisse ist zu ihrem Berufsalltag geworden. Die gelernte Chemielaborantin und Milizfeuerwehrfrau hat einen ungewöhnlichen Berufswechsel gewagt. Sie ist nun bei der SBB Intervention auf dem Lösch- und Rettungszug als Lokführerin und Feuerwehrfrau tätig.
Paul Roppel
Pünktlich wie die SBB trifft die junge Frau im sportlichen Freizeittenü zum Interview mit der NFZ im Gebäude der Feuerwehr Oberes Fricktal (FOF) im Ortsteil Bözen ein. Für das Porträtfoto wirft sie sich die legere Übungsjacke dieser Formation über und stellt sich vor ein Tanklöschfahrzeug. «Diese Fahrzeuge darf ich momentan noch nicht fahren», lacht Selin Brosy und fügt an, dass sie bald den LKW-Fahrausweis Kategorie C «am Machen» sei und Fahrunterricht nehmen werde. Das sei ihr Ziel und auch im Sinne der Feuerwehr, erzählt die aufgestellte und unkomplizierte 24-Jährige mit der sonnigen Ausstrahlung.
«Ja, es läuft für mich sehr rund und ich bin deshalb auch sehr glücklich», bestätigt sie den Eindruck. Ein Grund sei sicher, dass sie gerade von einem eindrücklichen Trip aus Dublin (Irland) zurück gekommen sei, den sie sehr genossen habe. «Ich reise fürs Leben gerne und habe schon viele Plätze rund um den Globus besucht. Momentan bin ich am Planen einer grösseren Reise nach Asien», gewährt sie einen Einblick in eine ihrer Leidenschaften. Auf dem Tablett präsentiert sie spontan einige bekannte, aber auch exotischere Plätze in Malaysia, die sie eventuell in ihre Reiselust einplanen will. Der neue Job mache es möglich, dass sie zwischendurch vermehrt Kurztrips unternehmen könne.
Rigorosen Berufswechsel gewagt
Dass sie es an diese Stelle geschafft habe, erfülle sie mit Freude und Glück, sagt Brosy. «Ich habe einen rigorosen Berufswechsel gewagt, mit dem Risiko, dass ich die gestartete Ausbildung mit den verschiedenen Ausbildungsblöcken und regelmässigen Prüfungen nicht schaffe und plötzlich ohne Anstellung da stehe», leitet sie das Thema zu ihrem neuen Beruf über. Ja, sie sei zielstrebig, ehrgeizig und diszipliniert und das habe ihr bei der umfangreichen Selektion zum Einstieg und dann der zehn Monate dauernden Ausbildung in Theorie und Praxis geholfen. «Es war hart, sehr lehrreich und komplettes Neuland. Ich war die einzige Frau in der elf Personen zählenden Klasse. Am Schluss waren wir noch sieben», blickt sie kurz zurück. «Seit Anfang Jahr habe ich eine Festanstellung als Feuerwehrfrau und Lokführerin B100 bei der SBB Intervention in Olten», zeigt sich Brosy glücklich. Sie arbeitet in einem fünf Personen zählenden Team, bestehend aus zwei Lokführern, einem Gruppenführer und zwei Offizieren, das jeweils 24-Stundenschichten absolviert. Insgesamt 18 Personen decken diese Notfallorganisation ab, die über einen Lösch- und Rettungszug (LRZ) verfügt. Solche Züge hat die SBB an 16 Interventionsstandorten stationiert.
100 Stunden Fahrpraxis vorgeschrieben
«Wir rücken mit dem LRZ innert fünf Minuten zu einem Ereignisort aus», sagt Brosy, die das dreiteilige und über 200 Tonnen schwere Dieselmotor betriebene Ungetüm mit einer Geschwindigkeit von bis zu 100 km/h steuern kann. «Für den Lizenzerhalt muss ich pro Jahr mindestens 100 Stunden damit fahren», ergänzt sie. Der LRZ ist ausgerüstet mit einem 48 000 Liter Löschwassertank, Wasserwerfer, einem Rettungscontainer mit Sanitätsmaterial, der von Aussenluft abgeschirmt werden kann und Platz für 60 Personen hat. Zusätzlich gibt es einen Geräteraum für Lösch- und Rettungsmaterialien, sowie Werkzeuge und Atemschutzausrüstungen. «Unser Auftrag ist im Ernstfall möglichst rasch wieder zu einem geordneten Bahnbetrieb beizutragen. Interne, externe Partner und Blaulichtorganisationen, auch Feuerwehren, unterstützen uns bei Bedarf dabei», fasst sie die Einsätze bei Bränden, Entgleisungen, steckengebliebenen Zügen, Evakuationen, Personen- und Tierunfällen zusammen.
Integration dank Feuerwehrdienst
«Jeder Tag ist anders, es ist spannend und ich muss noch einiges lernen», gibt Brosy freimütig zu. Einige Voraussetzungen hat sie bereits mitgebracht durch ihr Engagement bei der Feuerwehr Oberes Fricktal. «Wegen meines Berufes in der Chemie bin ich zufällig im Fricktal und in Zeihen gelandet. Um den Anschluss zu finden und mich zu integrieren, wollte ich Feuerwehrdienst leisten, was eine sehr gute Idee war. Die Tätigkeit macht mich sogar sehr glücklich», zeigt sie sich zufrieden. «Ich mache mit im Atemschutz, in der Verkehrsgruppe und seit neuem als Maschinistin und bin zuständig als operative Administratorin», erklärt sie, was 2023 in der Beförderung zur Gruppenführerin anerkannt wurde. Zudem ist sie aktiv als First-Responder. «Ich arbeite gerne mit Leuten zusammen und bin neugierig auf Neues», sagt sie.
Schon in der Jugendzeit habe sie fünf Jahre bei den Verkehrskadetten in Bern mitgewirkt und dort sogar eine Kaderfunktion erhalten, wo sie Einsätze, Ablösungen und Verpf legung organisieren durfte. Die einsatzwillige Frau möchte sich sogar noch stärker in der FOF einbringen. «Geplant ist deshalb die Anmeldung für den Offizierskurs im nächsten Jahr», verrät sie. Für die fernere Zukunft könnte sie sich sogar eine Bewerbung als kantonale Instruktorin im Feuerwehrwesen vorstellen.
Bei der Feuerwehr gut aufgehoben
«Zusammen mit meinem neuen Beruf fühle ich mich bei der Feuerwehr angekommen», bekräftigt sie. Ihre mentale und physische Balance finde sie im Fitnessraum, wo sie unter Betreuung eines Coachs Bodybuilding betreibe und bereits erfolgreich an einem Wettbewerb teilgenommen habe, gibt die zielstrebige Powerfrau mit der sportlich gestählten Figur preis.
Brosy ist in Bern aufgewachsen. «In einer Patchworkfamilie, zweisprachig, deutsch und englisch, weil meine Mutter Kanadierin ist», erzählt sie. Zudem erlebte sie ein Austauschjahr in einer französisch sprechenden Klasse in Fribourg. «Ein Lehrer hat mich derart begeistert für Biologie, Chemie und Physik, dass ich sogar Freifachstunden darin nahm und schliesslich in Schaffhausen die Lehre als Chemielaborantin machte», resümiert Brosy. Ihre sensiblere Seite und das Einfühlungsvermögen in Menschen, sind in der Vertiefungsarbeit an der Lehrabschlussprüfung 2019 ersichtlich. Von den 500 eingereichten Werken prämierte der Kanton die sechs hervorragendsten, worunter sich ihr Manuskript unter dem Titel «Umgang mit Trisomie 21» befand. Sie befasste sich darin mit der Lebensgestaltung eines beeinträchtigten Menschen mit einem Down-Syndrom, dessen Wahrnehmung, seiner sozialen Umgebung, gab Einblick in Schul- und Heimstätten, zeigte Integrationsmöglichkeiten und rundete das Ganze mit einem Interview mit dem Betroffenen ab. «Es war ein absolut nicht alltägliches, ehrgeiziges Projekt, bereichernd und es hat sich gelohnt», meint Brosy. Die Stellensuche als Laborantin verschlug sie ins Fricktal zu einer Agrofirma in ein Labor für chemische Entwicklung, was nun aber der Vergangenheit angehört. Ihre neue Domäne ist die Feuerwehr.