«Ich floh, um zu leben – und fand eine neue Heimat»
01.09.2025 PersönlichAktuell leben über 65 000 Ukrainerinnen und Ukrainer mit Schutzstatus S in der Schweiz. Serhii Dolhozhyv erzählt, wie schwer ihm die Sprache fällt, wie sehr er seine Heimat vermisst – und warum er trotzdem optimistisch bleibt.
Monika Irion
Seit Beginn des ...
Aktuell leben über 65 000 Ukrainerinnen und Ukrainer mit Schutzstatus S in der Schweiz. Serhii Dolhozhyv erzählt, wie schwer ihm die Sprache fällt, wie sehr er seine Heimat vermisst – und warum er trotzdem optimistisch bleibt.
Monika Irion
Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine im Februar 2022 suchten über 80 000 Ukrainerinnen und Ukrainer in der Schweiz Schutz. Serhii Dolhozhyv und seine Frau Natascha waren zwei von ihnen. «Meine Frau und ich fuhren wie immer am Morgen mit dem Auto zur Arbeit und hörten plötzlich im Radio den Aufschrei: Krieg! Wir waren wie paralysiert, unfähig das Gehörte zu begreifen. Fassungslos sahen wir zu, wie die Russen in unser Land einmarschierten und Tod und Verzweiflung brachten. Natascha floh nach Kanada zu unserer Tochter, somit war sie in Sicherheit. Es war für mich unvorstellbar, sie verschüttet in unserem Keller vorzufinden. Ich blieb noch ein Jahr in unserem Haus in Odessa, da sich die Kriegsfront in Mykolajiw (Nikolajew) befand, 110 Kilometer von Odessa entfernt.»
Nach dem 2. Weltkrieg wollte niemand Deutsch lernen, zu viel Leid und Gewalt wurde von der deutschen Besatzung ausgeführt. In den Schulen wurde Englisch und Russisch unterrichtet. Heute lernen die Studenten Deutsch, Französisch oder Englisch. «Da ich in der Sowjetunion aufwuchs, hatte ich keine Intention Deutsch zu lernen. Unsere Unabhängigkeit von der Sowjetunion begann im August 1991. Wir feierten am 24. August unsere Unabhängigkeit – den staatlichen Nationalfeiertag. Mit der Annexion der Krim 2014, wurde Russland zu unserem Feindbild. Im Laufe meiner Kindheit lebte ich mit meiner Familie drei Jahre an der Ostsee, der damaligen DDR. Mein Vater war sowjetischer Militärarzt und konnte Deutsch. Wir haben jedoch nur russisch miteinander gesprochen,» erklärt Serhii Dolhozhyv.
Von Trümmern zu Chancen
Als die Bombardierung auch in Odessa einsetzte und Serh ii Dolhozhyv mit ansah, wie die Häuser der Nachbarn zerstört wurden, hat auch er sich zur Flucht entschlossen. Natascha Dolhozhyv lebte bis Dezember 2022 in Kanada. Für ihn war es jedoch keine Option, nach Kanada auszuwandern – er wollte in Europa bleiben. Zuerst lebten sie bei Freunden in Buus bis Dolhozhyv von einer Wohnung in Maisprach erfuhr und dort mit seiner Frau eine zweite Heimat fand. «Mich faszinierte so viel Grün! Eine überwältigende Landschaft empfing uns – Wälder, Hügel und Berge. Odessa ist eine schöne Millionenstadt am Schwarzen Meer, jedoch unpersönlich und flach.»
Hoffnung trägt weiter
Serhii Dolhozhyv lebt seit zwei Jahren in der Schweiz und fühlt sich wohl. Für ihn war von Anfang an sehr wichtig, Deutsch zu lernen und sich in seine neue Heimat zu integrieren. «Mein Wochenplan ist gespickt mit Aktivitäten. Von Montag bis Donnerstag lerne ich in Deutschkursen die Sprache in Basel, Rheinfelden und Gelterkinden. Weiter besuche ich ein Sprachkaffee. Am Freitagmorgen gibt es zusätzlich einen Konversationskurs im ‹Drei Könige› in Rheinfelden.» Für Serhii Dolhozhyv war es von Anfang an klar, ohne Deutsch gibt es keine Integration.
Schweizer Deutsch ist für Serhii Dolhozhyv kein Dialekt, sondern eine Landessprache. Er möchte sehr gerne «Schwiizerdütsch» lernen, da es für ihn die «Seele» der Deutschschweiz bedeutet. Der Liedermacher und Jurist Mani Matter hat es Serhii Dolhozhyv speziell angetan. Er hörte gerne seine Chansons, vor allem: «I han es Zündhölzli azündt.»
Neue Heimat, neues ich
«Maisprach ist mein neues Zuhause, hier fühle ich mich wohl.» Serhii Dolhozhyv ist in der Umgebung handwerklich unterwegs. Er repariert alles und bereitet mit seiner freundlichen und hilfsbereiten Art seinen Nachbarn und Mitmenschen viel Freude. Er engagiert sich auch in Repair-Cafés in beiden Rheinfelden und in Gelterkinden. «Das ist mein grosses Hobby», Serhii Dolhozhyv freut sich, gebraucht zu werden und einer sinnvollen Tätigkeit nachzugehen. «In Maisprach habe ich einen Freund. Er ist auch Ukrainer, der aus der Stadt Butscha evakuiert wurde. Er war anfangs sehr zurückhaltend und abweisend, bis er mich kennen lernte. Heute habe ich diesen ‹Perfektionisten› sehr gerne und wir verbringen sehr viel Zeit miteinander.» Als ausgebildeter Pädagoge lernte er, mit schwierigen Menschen umzugehen. Er geniesst es, dass man ihn in Maisprach kennt und miteinander freundlich umgeht. «Ein freundliches Grüezi erhellt nicht nur meinen Tag», meint Serhii Dolhozhyv. Er liebt es, lange Spaziergänge mit seiner Frau Natascha zu unternehmen und mit dem Velo seine Umgebung zu erkunden. Sein Traum ist, es von Maisprach nach Frankreich zu radeln. «Ich bin dran zu trainieren. Vor ein paar Tagen bin ich 66 Kilometer gefahren.»
Serhii Dolhozhyv ist 67 Jahre alt. Mit seiner Weitsicht als Pädagoge und der Präzision eines Ingenieurs verfügt er über einen breiten Horizont mit einer vertieften Allgemeinbildung. Über 30 Jahre lang engagierte er sich in der Ukraine für die historische Wahrheit, nationale Identität und gegen die Mythen imperialer und sowjetischer Geschichtsschreibung. Falls der Krieg irgendwann zu Ende geht, möchte er mit seiner Frau zurück in die Ukraine, aber nicht um jeden Preis. Jedoch dieser Wunsch wird immer schwächer. «Ich liebe meine Familie und Freunde, die noch in der Ukraine sind, aber die erste Person in meinem Leben ist meine Frau. Wo sie ist, da bin auch ich»
«Eine Minute der Schwäche», ein Gedicht von Serhii Dolhozhyv, ist nachzulesen auf: seged.infy.uk/articles/artikel-0.php