Ein Vater kehrt zurück - Über Abschied, Aufarbeitung und Lebensglück

  31.03.2024 Persönlich, Eiken

Christine Kaufmann ist vierzehn, als ihr Vater stirbt. Die Erinnerung an ihn lässt sie bis heute kämpfen – gegen die lähmende Angst vor der Trauer.

Ronny Wittenwiler

Das Grab in Eiken ist nicht mehr, überholt von der Zeit. Rolf Kaufmann stirbt 1997 an der unheilbaren Nervenkrankheit «ALS». 26 Jahre später gründet Christine Kaufmann, eine seiner drei Töchter, den Verein «trauern hilft» (die NFZ berichtete).

Christine Kaufmann ist heute vierzig Jahre alt. Das Engagement, das die selbständige Grafikerin an den Tag legt, hat viel mit der eigenen Vergangenheit zu tun. Jetzt hinzustehen und ihre Geschichte zu erzählen, eine über Verletzlichkeit, psychische Probleme und über die Suche nach sich selbst – «nein», sagt sie, das brauche keinen Mut mehr. «Ich habe gemerkt, wie heilend es ist, meine Geschichte zu erzählen und sie mit anderen zu teilen.» Mit ihrem Verein, den sie präsidiert, will Christine Kaufmann professionelle Angebote im Bereich der Trauerbegleitung sichtbar machen und miteinander vernetzen. Angehörige, Kinder und Jugendliche sollen dort eine erste Anlaufstelle finden.

«Wir alle waren überfordert»
Ihre Geschichte, die mit der Diagnose des Vaters begann und mit seinem Sterben nicht zu Ende war, ist eine übers Funktionieren, in das Christine Kaufmann hineingeraten war. Vorwürfe, das zu betonen ist ihr wichtig, macht sie niemandem. «Wir alle waren mit der Situation überfordert», sagt sie, und man stellt es sich vor: Eine Mutter pf legt über Jahre ihren schwerkranken Mann, kümmert sich gleichzeitig um Haushalt, die gemeinsamen Kinder, und ist dann, als der Mann stirbt, mit ihnen allein. Kurz nach dem Tod des Vaters besucht Christine Kaufmann wieder die Bezirksschule. Das Leben geht ja weiter, es gibt kein Innehalten, stark sein, lautet die Devise. «Irgendwie geht es ja», sagt Kaufmann rückblickend, und sie meint es eben nicht genauso. Für die Trauer gibt es einfach keinen Platz.

Ihr Projekt verfolgt sie mit Akribie. Diverse Fachpersonen hat sie an Bord geholt, im Vorstand engagieren sich unter anderem ein Kinder- und Jugendpsychologe, eine Familientrauerbegleiterin, ein Bestatter; Menschen, die mitbekommen, wie heilsam es sein kann, zu trauern einerseits – und die genauso immer wieder sehen, welche Folgen es eben hat, just dieser Trauer keinen Platz einzuräumen. Christine Kaufmann hat es selbst erfahren, damals.

Geradeaus, tolle Geschichte
Nach der Bezirksschule eine Lehre als Hochbauzeichnerin, danach in Basel die Fachklasse für Gestaltung, dreijährige Ausbildung zur Gestalterin, sie gewinnt mit ihrer Abschlussarbeit gar den Förderpreis, dotiert mit 8000 Franken. Kaufmann macht ihren Weg, immer schön vorwärts, geradeaus, tolle Geschichte. Ach, ja: Irgendwie geht es ja. Doch geht immer wieder der stille Alarm los. Bloss, was nützt das schon, wenn man den Brand immer und immer wieder bekämpft, anstelle der eigentlichen Ursache. «Jetzt müssen wir aufpassen, dass sie nicht in eine Magersucht hineingerät.» Es ist ein Satz, den Christine Kaufmann so oder ähnlich kurz nach dem Tod ihres Vaters oft hört. Der Gewichtsverlust, wenn man so will, ist dieser erste Brand, den ein ganzes Umfeld bis hin zur Lehrerschaft zu löschen versucht. Die Fokussierung auf die Ursache aber bleibt aus. Als wolle man über den Tod einfach Gras wachsen lassen, wie bei einem Grab, aus Angst und Überforderung vielleicht, den passenden Umgang damit eben nicht zu finden. Retrospektiv, sagte Kaufmann vor wenigen Wochen zu dieser Zeitung, sei ihr klar geworden, wie dieses Unterdrücken und unterdrückt werden von Gefühlen in frühester Kindheit ihrer physischen und psychischen Gesundheit bis ins Erwachsenenalter zugesetzt habe. «So viele Jahre habe ich mich nicht gespürt, bis ich durch das permanente Wachrütteln meines Körpers merkte: Ich muss endlich hinschauen und die Ereignisse von damals aufarbeiten.» Erst dadurch lernt Christine Kaufmann, der Trauer ihren verdienten Platz zu geben – und so auch ihrem Vater.

«Das kann doch nicht sein!»
Im letzten Jahr machte sie die Ausbildung zur Familientrauerbegleiterin und sie lässt das Kämpfen nicht. «Ja, ich bin wütend», sagt Christine Kaufmann. Darüber, dass Trauerbegleitung noch immer nicht von der öffentlichen Hand finanziert werde. Dabei sei gerade das Präventionsarbeit. «Aber nein, ein Kind muss erst erkranken, eine psychische Störung entwickeln, damit die Krankenkasse zahlt. Das kann doch nicht sein!» Es sind solche und andere prägnante Sätze, die Christine Kaufmann sagt, als sie beim Gespräch mit der NFZ in der Basler Markthalle sitzt und bei aller Kampfeslust und einer ungeschönten Wut letztlich auch eines wirkt: nämlich glücklich. «Ich fühle mich heute lebendiger als je zuvor. Und vor allem: ich fühle mich.»

Die Zeiten haben sich geändert
Es sind schöne Zeiten, erfüllende, in denen sich Christine Kaufmann Stück für Stück ihren Vater zurückholt. Darum sagt sie heute: «Wenn Verstorbene den Hinterbliebenen gegenüber einfach nicht mehr erwähnt werden, weil niemand unnötig Staub aufwirbeln will – dieses Vergessen und Verschweigen ist das Schlimmste. Denn dann sind die Menschen nicht nur körperlich tot, sie werden auch totgeschwiegen und verschwinden so aus unseren Köpfen und Herzen.»

Mit ihrem Verein «trauern hilft» schreibt die Fricktalerin Christine Kaufmann gerade weiter an ihrer eigenen Geschichte. «Trauer ist dort, wo jemand geliebt worden ist», sagt sie mit einem Lächeln im Gesicht. Das Grab des Vaters ist nicht mehr. Im Herzen von Christine Kaufmann aber hat Papi Rolf seinen Platz gefunden.

www.trauernhilft.ch


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