Ein Bürgerdienst für alle?
08.11.2025 FokusAbstimmung am 30. November über die Service-citoyen-Initiative
PRO
Gleiche Pflichten – gleiche Chancen
Béa Bieber, Grossrätin GLP, Rheinfelden
Immer weniger Menschen leisten in der Schweiz Dienst – und das Milizsystem, einst Herzstück unseres Zusammenhalts, gerät ins Wanken. Nur noch etwa jeder Dritte engagiert sich in Armee, Zivilschutz oder Zivildienst. Gleichzeitig stemmen Frauen nach wie vor den grössten Teil der unbezahlten Care-Arbeit – oft unsichtbar, ohne Anerkennung oder Ausgleich. Wer sich für Familie, Pflege oder Nachbarschaft einsetzt, tut ebenso viel für die Gemeinschaft wie jemand im Tarnanzug oder im Zivilschutzkeller. Trotzdem zählt diese Arbeit in unserem System nicht als «Dienst am Land». Echte Gleichstellung sieht anders aus.
Genau hier setzt die Service-citoyen-Initiative an. Sie will, dass künftig alle jungen Menschen – Frauen und Männer – einen Beitrag an die Gemeinschaft leisten. Ob im Militär, im Zivilschutz, im Umweltschutz, in der Pflege oder in sozialen Projekten: Jede und jeder soll sich in einem Bereich engagieren, der der Gesellschaft und der Umwelt dient. Das Ziel ist klar: Wer Teil dieser Gesellschaft ist, trägt auch Verantwortung für sie.
Diese Idee ist nicht neu, aber sie ist hochaktuell (z. B. am Beispiel von Norwegen). Die Herausforderungen der Zukunft sind nicht mehr nur militärisch. Klimakatastrophen, Cyberangriffe, soziale Isolation oder Pflegeengpässe verlangen neue Formen von Einsatz und Solidarität. Ein moderner Bürgerservice könnte helfen, die Schweiz widerstandsfähiger zu machen – gegen Krisen, aber auch gegen gesellschaftliche Spaltung. Denn wer einmal zusammen im Einsatz war, weiss, was es heisst, füreinander einzustehen.
Ich selbst habe überzeugt Diensttage im Zivilschutz und für die Armee geleistet, dazu Feuerwehrdienst beim Rheinrettungsdienst. Diese Zeit hat mich geprägt: Teamarbeit, Verantwortung, Krisenbewältigung – Fähigkeiten, die mir im Alltag immer wieder helfen. Warum sollten solche Erfahrungen nur einem Teil der Bevölkerung vorbehalten sein? Wir alle profitieren, wenn mehr Menschen lernen, Verantwortung zu übernehmen – egal, ob in Uniform oder im Pflegeheim.
Der Service citoyen schafft dabei kein Zwangssystem, sondern ein Chancenfeld. Er bietet jungen Menschen die Möglichkeit, etwas Sinnvolles zu tun, neue Perspektiven zu entdecken und die Gesellschaft mitzugestalten. Das stärkt nicht nur das Gemeinschaftsgefühl, sondern auch das Verständnis für andere Lebensrealitäten. Ein junger Mensch aus Zürich, der im Wallis bei der Feuerwehr mithilft, oder eine Studentin, die im Jura im Zivilschutz tätig ist – das sind Begegnungen, die Brücken schlagen zwischen Regionen, Generationen und Kulturen.
Die Schweiz lebt vom Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger. Doch Freiwilligkeit allein reicht nicht mehr aus, um die wachsenden Aufgaben zu bewältigen. Mit dem Service citoyen modernisieren wir unser Milizsystem, sichern die Kriseninterventionsdienste und schaffen echte Gleichstellung.
Ein Dienst für alle – das ist kein Rückschritt, sondern ein Schritt in die Zukunft. Darum sage ich: Ja zum Service citoyen. Ja zu einer engagierten, solidarischen Schweiz.
CONTRA
Risiken für Wirtschaft, Armee und das Prinzip der Freiwilligkeit
Alex Reimann, Grossrat SVP, Wölflinswil
Der Militärdienst steht für Einsatzbereitschaft, Disziplin und Verantwortung gegenüber unserem Land. Die Armee ist nicht einfach eine Pflichtübung, sondern der Kern unserer Sicherheit und Unabhängigkeit. Wer die Schweiz schützen will, braucht eine einsatzfähige Milizarmee getragen von jungen Männern und Frauen, die bereit sind, ihre Pflicht gegenüber Vaterland und Bevölkerung zu erfüllen. Die Service-citoyen-Initiative gefährdet dieses bewährte System, indem sie die Wehrpflicht aufweichen und durch einen allgemeinen Gesellschaftsdienst – sei es bei der Feuerwehr, in der Verwaltung oder bei NGOs – ersetzen will. Dies würde die Armee schwächen und die Sicherheit der Schweiz aufs Spiel setzen, da die Armee weiterhin auf ausreichend gut ausgebildete Soldaten angewiesen ist. Bereits heute ist es schwierig, die notwendigen Bestände zu sichern. Eine Verwässerung der Wehrpflicht könnte dazu führen, dass weniger junge Menschen den Militärdienst antreten. Die Wehrpflicht für Männer hat sich seit Jahrhunderten bewährt. Natürlich, auch Frauen und Freiwillige sind in der Armee willkommen. Heute schon können sie sich einbringen und viele tun das mit Herzblut. Aber es ist ein Unterschied, ob man motivierte Freiwillige hat oder sie mit Zwang in einen undefinierten Service citoyen schickt.
Zudem unterscheidet sich echte Freiwilligkeit grundlegend von einer verpflichtenden Teilnahme am Bürgerdienst. Zwang führt eher zu Frustration als zu Engagement und schwächt die Glaubwürdigkeit des Verteidigungsauftrags.
Die flächendeckende Einführung eines Bürgerdienstes würde zudem einen erheblichen organisatorischen und administrativen Aufwand verursachen. Es müssten neue Strukturen geschaffen, Einsatzstellen organisiert und die Qualität der Einsätze sichergestellt werden, was zusätzliche Ressourcen bindet. Die Gefahr besteht, dass ein grosser Teil der Ressourcen in die Verwaltung fliesst, anstatt direkt der Gesellschaft zugutezukommen.
Auch der gesellschaftliche Zusammenhalt würde durch eine Pflicht nicht automatisch gestärkt, die Schweiz lebt bereits von einer aktiven Vereinskultur, die freiwilliges Engagement fördert. Hinzu kommen erhebliche finanzielle Belastungen: Laut Bundesrat würden die Kosten für den Erwerbsersatz auf rund 1,6 Milliarden Franken und die Ausgaben der Militärversicherung auf etwa 320 Millionen Franken pro Jahr steigen. Diese Mehrkosten müssten von Arbeitgebern, Arbeitnehmenden und der öffentlichen Hand getragen werden.
Fazit: Die Service-citoyen-Initiative schwächt die Verteidigung, schafft neu Bürokratie und gefährdet das bewährte Milizsystem. Es gilt, an einer Armee von Bürgern für Bürger festzuhalten, um die Freiheit und die Sicherheit der Schweiz zu bewahren.
Darum geht es bei der Abstimmung
Die Service-citoyen-Initiative sieht vor, dass alle Schweizer Bürgerinnen und Bürger einen Dienst zugunsten der Allgemeinheit und der Umwelt erbringen müssen. Mit dem «Service citoyen» (Bürgerdienst) möchte die Initiative das Gemeinwohl stärken. Auch Frauen müssten somit neu einen Dienst leisten. Dieser Dienst soll entweder im Militär, im Zivilschutz oder in Form eines gleichwertigen Milizdienstes erbracht werden, wobei der Sollbestand von Armee und Zivilschutz garantiert sein muss. Die Initiative zielt darauf ab, die Sicherheit breiter zu denken und die Dienstpflicht stärker auf Bereiche wie Klimaschutz, Ernährungssicherheit und Betreuung auszurichten. Personen, die keinen Dienst leisten, sollen wie heute eine Abgabe entrichten. Durch die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht würden doppelt so viele Bürgerinnen und Bürger rekrutiert wie heute. Damit würden auch die Kosten für Bund, Kantone und die Wirtschaft entsprechend steigen. (mgt/nfz)



