Ein bewegtes Leben zwischen Trafoi und Stein
10.06.2025 PersönlichSie darf wahrlich auf ein bewegtes Leben zurückblicken: Eva Vögeli von der Rütistrasse in Stein ist im Südtirol aufgewachsen, erlebte die Deportation aus ihrem Geburtsort und fand in der Schweiz eine neue Heimat. Berge, Bewegung und Basteln zählen zu den grossen Leidenschaften der 89-Jährigen.
Fabrice Müller
Kennen Sie Gustav Thöni? Zusammen mit Bernhard Russi hat er in den 1970er-Jahren den internationalen Ski-Zirkus dominiert. Gustav Thöni stammt aus dem Südtirol, genauer gesagt aus Trafoi. Das kleine Bergdorf ist auch die Heimat von Eva Vögeli, die zusammen mit ihrem Mann Gusti an der Rütistrasse in Stein wohnt. «Wir sind befreundet und verwandt miteinander», erzählt Eva Vögeli strahlend, «meine Mutter war die Cousine seines Vaters». Auch heute noch habe Vögeli Kontakt mit dem vierfachen Gesamtweltcupsieger, wenn sie ihrer früheren Heimat einen Besuch abstattet. Wie wichtig ihr das Südtirol, die Berge sowie ihre Familie und Freunde sind, zeigt sich bereits im Eingangsbereich des Hauses. Viele Fotografien zieren die Wände, darunter ein Bild mit ihren Grossvätern – allesamt Bergführer – und dem Kronprinzen Friedrich Willhelm von Preussen (1882-1951). Neben den vielen Bildern hängt übrigens auch ein Seil mit Pickel – die Bergführerausrüstung von Eva Vögelis Vater Johann Platzer.
Flucht aus der Heimat
Die Geschichte ihres Vaters, ihrer Familie und ihrer Heimat, das Südtirol, ist geprägt von mutigen Bergführern und Erstbesteigungen, Pionieren und Schicksalsschlägen. Im Buch «Die Bergführer von Sulden und Trafoi» – Legende und Geschichte – hat Eva Vögeli die Geschichte ihrer Familie dokumentiert. Dazu gehört unter anderem die notgedrungene Auswanderung der Familie mit Anna Ortler und Johann Platzer, einem berühmten Bergführer, sowie ihren sechs Kindern aus Trafoi bzw. aus dem Südtirol. Im damaligen faschistischen Italien litten die Südtiroler unter der «Italienisierung» des Südtirols. «Die Regierung hat uns verboten, in unserer Muttersprache zu sprechen», erinnert sich Vögeli. Bereits 1937 verliessen viele von ihnen ihre Heimat. 1940 traf es auch die Familie Platzer. Angekommen in Zell am See, wurde die Familie mit anderen Flüchtlingen in einem alten Hotel einquartiert. «Wir mussten auf engstem Raum wohnen, essen und schlafen. Kälte, Flöhe und Wanzen sowie der tägliche Hunger machten uns schwer zu schaffen», erzählt Eva Vögeli.
Neue Heimat im Ötztal
Zum Glück fand ihr Vater im nahegelegenen Ötztal eine Arbeit als Bergführer und später eine feste Stelle als Zimmermann. Somit wurde das Ötztal, genauer gesagt der Ort Heiming, zur neuen Heimat der Familie. Eva besuchte dort die Schule. Ihre beiden älteren Schwestern wanderten bereits früher nach Mailand aus, um dort als Haushaltshilfen zu arbeiten. Leider verstarben sie früh im Alter von 19 und 24 Jahren. Eine weitere Schwester wurde als Flak-Helferin der deutschen Wehrmacht an die russische Front versetzt. «Als sie 1945 nach Hause kam, war sie traumatisiert und starb an Diphterie. Mein Bruder Hugo wurde ebenfalls ins Militär eingezogen, desertierte jedoch und versteckte sich bis Kriegsende in den Bergen.» Hugo Platzer war ein ausgezeichneter Skifahrer, durfte jedoch 1952 nicht an den Olympischen Winterspielen in Oslo teilnehmen, weil der Südtiroler – wie viele aus seiner Heimat – damals noch als staatenlos galt. Auch Eva Vögeli und ihre Familie verfügten zu dieser Zeit über keine Staatsbürgerschaft.
Arbeitsstelle in der Schweiz
Auf der Suche nach einer Lehrstelle verschlug es Eva Vögeli im Alter von 14 Jahren nach Obergurgl im Bezirk Imst im Tirol, während ihre Eltern weiterhin im Ötztal lebten. In Obergurgl fand das Mädchen eine Anstellung in einer kleinen Pension, wo sie als Kindermädchen, im Service und in der Küche arbeitete. Auch ihre sieben Jahre ältere Schwester Irma zog es in die Gastronomie, allerdings in die Schweiz. Sie suchte für Eva Vögeli eine Stelle und wurde in der Pension «Sonne» in Solothurn fündig. So wanderte Vögeli mit 17 in die Schweiz aus. Zwei Jahre war sie in der Pension im Service angestellt. Danach wechselte die junge Südtirolerin ihre Stelle und arbeitete für kurze Zeit als Dienstmädchen in einer Uhrenfabrikantenfamilie.
Von Solothurn ins Fricktal
Über ein Inserat stiess Eva Vögeli anfangs der 1950er-Jahre auf eine offene Stelle als Serviertochter im Gasthof Hirschen in Wil AG. Sie bewarb sich und wurde eingestellt. Dort lernte die Südtirolerin ihren heutigen Mann Gusti kennen. Bereits nach acht Monaten, am 13. Oktober 1956, heirateten die beiden in Mariastein SO. Somit erhielt Eva Vögeli die Schweizer Staatsbürgerschaft. Auf der Suche nach einer gemeinsamen Wohnung wurden sie an der Rheinbrückstrasse in Stein fündig; ganz in der Nähe wohnte bereits die Schwägerin von Gusti. Schnell wurden Eva und Gusti in Stein heimisch und gründeten mit der Geburt von Joachim «Jimmy» (1958) und Eveline (1964) eine Familie. Eva Vögeli arbeitete eineinhalb Jahre in den Kera Werken in Laufenburg, danach wechselte sie in das Restaurant «Rhy» in Stein in den Service. Das Servieren lag ihr im Blut. An vielen Festen stand sie im Einsatz, so zum Beispiel auch bei der Einweihung der neuen römisch-katholischen Kirche in Stein 1974.
21 Jahre im Kiosk
Immer wieder gab es beruf liche Veränderungen: Eva Vögeli war Aushilfsverkäuferin im Kiosk der Schmidt AG an der Rheinbrückstrasse in Stein (oberhalb des Ladens von Willy Gutknecht). Dann folgte eine Festanstellung im Kiosk beim Café Treffpunkt. «Der Kiosk war ein wichtiger Treffpunkt im Dorf», erinnert sich Vögeli, «die einen kauften Liebesromane, andere blieben den ganzen Vormittag bei mir am Kiosk stehen. Manchmal brachte man mir auch einen Kaffee». Nach der Ausbildung zur Einsatzleiterin bei der Kiosk AG betreute sie diverse Kioske im Aargau und Baselland.
Damenriege, Tennisclub und Basteln
Mit grossem Engagement engagierte sich Eva Vögeli im Vereinsleben: Sie war 30 Jahre in der Damenriege und leitete während elf Jahren die Mädchenriege. Als Höhepunkt bezeichnet die Turnerin die Teilnahme an der «Gymnaestrada» 1991 in Amsterdam. «Ich durfte zusammen mit der Weltelite turnen. Drei Jahre lang haben wir für diesen Auftritt geübt.» Weitere Höhepunkte waren sechs Teilnahmen an Eidgenössischen Turnfesten. Regelmässig bildete sich Eva Vögeli weiter und absolvierte Kurse beispielsweise fürs Muki- und Senioren-Turnen. Seit 40 Jahren ist sie zudem Mitglied im Tennisclub Novartis – und steht heute noch auf dem Platz. Eine weitere Leidenschaft sind Stickereien und Bastelarbeiten. Unzählige Puppen hat sie selber hergestellt – darunter auch einen Trompeter von Säckingen; ausserdem fertigt sie Schmuck aus Fimo Modelliermasse, Steinen und Perlen an. Manche ihrer Schmuckstücke wurden bis in die USA verkauft, wie sie stolz erzählt. Auch das Musizieren spielte eine wichtige Rolle: Sie spielte Klavier, Akkordeon und Gitarre – und trat an Hochzeiten, besonderen Anlässen und in Restaurants auf. Im Alter von 70 Jahren begann Eva Vögeli einen Englischkurs, den sie mit einem Diplom abgeschlossen hat. «Ich hatte wahrlich ein bewegtes und reichhaltiges Leben», zieht Eva Vögeli Bilanz und verweist auf ihre 8000 Schritte, die sie auch mit Jahrgang 1935 immer noch täglich zurücklegt, gerne beim Wandern im Fricktal oder dann – meist zweimal pro Jahr – in den Bergen im Ötztal, von denen sie viele selber einmal bestiegen hat.