Projekt «kriegsnachrichten.ch»: Die Rationierung dauert an

  28.07.2025 Fokus

In den beiden Regionalzeitungen des Fricktals ist im Zeitfenster 3. Quartal 1945 das innenpolitische Dauerthema die immer noch bestehenden Rationierungen.

Thomas Bitterli

Kriegswirtschaft und Rationierung
Kaum schweigen am 8. Mai 1945 die Waffen, beginnt man in der Schweiz vom raschen Abbau der Kriegswirtschaft zu träumen. Rationierung und Bewirtschaftung der Mangelgüter wird aus ideologischer Sicht als unerwünschte staatliche Kollektivwirtschaft empfunden, die in Friedenszeiten keinen Platz mehr hat. «In der Uebergangszeit benötigen wir ein gewisses Mass kollektiver Wirtschaft, um namentlich in gerechter Weise die Sozialordnung zu gewährleisten …» (fth 76, 9.7.45, S. 2). Erst allmählich wird den Träumenden bewusst, dass das weitgehend verwüstete Europa nach Kriegsende gar nicht in der Lage ist, den steigenden Bedarf der Schweiz sofort decken zu können. So werden erst ab Mitte 1948 die letzten Einschränkungen fallen.

Versorgungslage weiterhin kritisch
Nach Darstellung der Zentralstelle für Kriegswirtschaft ist die Versorgungslage der Schweiz auch nach dem Einstellen der Kampfhandlungen in Europa «keineswegs rosig» (fth 75, 6.7.45, S. 4), In den Verhandlungen mit den Alliierten wird zwar eine tägliche Einfuhrmenge von 2200 Tonnen an Lebens- und Futtermitteln zugesichert, im Juni 1945 sind es aber erst rund 1300 Tonnen. Die aus heimischer Sicht schleppende Erhöhung der Importe wird offiziell mit zu wenig betriebsfähigen Bahnwagen begründet.

Da die Importe weiterhin ungenügend sind, kann die «so nötige Erhöhung der Brotration» nicht durchgeführt werden. «Das Erscheinen von Orangen, Zitronen, Weinbeeren u. a. m. … darf keineswegs als Folge günstiger Zufuhrverhältnisse aufgefasst werden.» Denn die Spanier machen die Abnahme von Überschüssen an Südfrüchten zur Bedingung für den Transitverkehr der lebensnotwendigen Güter ab dem (schweizerischen) Hafenlager in Portugal in die Schweiz (fth 76, 9.7.45, S. 3). Ein ähnlicher Vorgang zeichnet sich wenig später bei der Lieferung von Cellulose für die Papierindustrie aus Schweden ab. Für den Transit ab einem französischen Hafen in die Schweiz verlangt Frankreich einen Teil der Lieferung für sich (fth 107, 21.9.45, S. 1), bietet hingegen als Kompensation Kohlen und andere Industrierohstoffe (vdf 74, 3.7.45, S. 1). Für die Schweizer Papierindustrie und deren Hauptabnehmer, die Zeitungsverlage, ist das natürlich eine unmögliche Situation, die sofort geändert werden müsse.

Brotration bleibt weiterhin bestehen
Im Juli 1945 beschloss das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement, das Programm des Anbauwerkes in unverändertem Ausmass weiterzuführen (fth 78, 13.7.45, S. 3). Das Kriegsernährungsamt hat die Mahlvorschriften für Brotgetreide in einer neuen Verfügung zusammengefasst. Nach wie vor muss im Hinblick auf das Schwinden der Vorräte und die sehr spärlichen Zufuhren ein Höchstmass an Backmehl hergestellt werden, «da nur so Aussicht darauf besteht, die schon heute sehr knappe Brotration von 200 Gramm pro Tag durchzuhalten». Zur Streckung der Vorräte darf ab August 1945 neben Roggen auch Gerste beigemahlen werden. Ab 1. Oktober 1945 wird dann die persönliche Brotration auf 250 Gramm erhöht (vdf 101, 4.9.45, S. 1). Grund dafür war die Öffnung der Häfen von Genua und Savona für Schweizer Handelsschiffe.

Die ‹Neuerungen im Rationierungswesen› bringen vor allem zusätzliche Lebensmittelkarten für Jugendliche mit erhöhtem Bedarf an Nahrungsmitteln. Aber da mit den aktuellen Schwierigkeiten noch für eine Weile gerechnet werden muss, müssen die vorhandenen Vorräte auf lange Sicht zugeteilt werden (fth 87, 3.8.45, S. 3). Immerhin wird aber die Erhöhung der Kaffeezuteilung im November in Aussicht gestellt.

Gerüchte um Aufhebung der Rationierung
Die Situation wird allgemein so eingeschätzt, dass es verfehlt wäre «im gegenwärtigen Moment zu glauben, dass wir im Zeichen des endlich eingetretenen Friedens aller Versorgungsschwierigkeiten enthoben wären … Es sei gar wohl möglich, dass der nächste Winter seit 1939 der schwerste für unser Land werden könnte.» (fth 93, 20.8.45, S. 3). Im Verlaufe des Sommers 1945 macht deshalb das Gerücht die Runde, dass auch Kartoffeln und Obst rationiert werden. «Obwohl diese Mutmassungen jeglicher Grundlage entbehren, schaffen sie Beunruhigung.» (vdf 92, 14.8.45, S. 1).

Trotz dieser mahnenden Worte laufen «über die Rückkehr zu einer normalen Lebensmittelversorgung … zurzeit die verschiedensten Gerüchte um … Sogar von einer baldigen Aufhebung der Rationierungsmassnahmen kann man täglich ‹unter der Hand› hören. Man tue gut daran, solchen Gerüchten mit der nötigen Skepsis zu begegnen. «Werden die Gerüchte dann doch wahr, so werden wir alle angenehm überrascht sein». (vdf 107, 18.9.45, S. 3). Zwischen den Zeilen wird in den Regionalblättern dem Kriegswirtschaftsamt Unfähigkeit beim Verhandeln mit den Alliierten vorgeworfen. Oder die Bundesbeamten widerstreben sich dem Freigeben von Kompetenzen, die sie sich im Verlauf der sechs Jahre angeeignet hatten.

Wirtschaftskrieg tobt weiter
Auch wenn der Kampf lärm verstummt ist, der eher geräuscharme Wirtschaftskrieg tobt weiter. Ein schwerwiegendes Hindernis, dass vielen … Firmen den Export verunmöglicht, ist die Ächtung durch die schwarzen Listen ‹der Alliierten›, auf denen immer noch Hunderte von Firmen figurieren. Auch der Wirtschaftskrieg muss einmal ein Ende nehmen (fth 102, 10.9.45, S. 1). Man ist allgemein der Ansicht, dass die Alliierten die Schwarze Liste als Mittel im internationalen Konkurrenzkampf einsetzten (fth 104, 14.9.45, S. 5; vdf 113, 2.10.45). «Macht es den Anschein, als ob die Neutralen ohnehin ihren Tribut auf den Rohstoffmärkten durch überteuerte Preise zu entrichten hätten, so ist das Problem der schwarzen Liste für die schweizerische Wirtschaft geradezu von schicksalhafter Bedeutung. Darin wird das Dilemma der Schweizer Neutralität deutlich erkennbar. Obwohl nach Neutralitätsrecht der Freihandel mit allen Kriegsparteien möglich sein sollte, betrachteten die Alliierten die Schweizer Unternehmen als ‹Kriegsgewinnler› und setzten sie schon während des Krieges auf eine schwarze Liste. Mit dem Abkommen von Washington vom 25. Mai 1946 wurde nach Zahlung von 250 Millionen Franken an die USA diese Liste gelöscht und die Schweizer Konten entsperrt.

Der 1. August bleibt fleischlos
Mit diesem Titel wollen wir das Kapitel über die Kriegswirtschaft und die Rationierung abschliessen. Der Nationalfeiertag fällt 1945 auf einem Mittwoch, «somit auf einen für das Gastgewerbe fleischlosen Tag …» Die Verabreichung von vierteiligen Menus ist ebenfalls nicht gestattet. (vdf 82, 21.7.45, S. 1). Also ein 1.-August-Feuer ohne ‹Chlöpfer›!

Swiss Tours: Die Amerikaner kommen
Ab dem 15. Juli 1945 reisen in mehreren Wellen rund 300 000 in Europa stationierte Amerikaner zur Erholung in die Schweiz (fth 76, 9.7.45, S. 1). Angeboten werden vier Touren von je einer Woche. Die bevorzugten Gebiete sind der Vierwaldstättersee, das Berner Oberland und die Westschweizer Seen. Die Urlauber erhalten ein Taschengeld von 150 Franken und mehrere Malzeitencoupons, jedoch keine Lebensmittelkarten. In einer Pressekonferenz wird unter anderem darauf hingewiesen, dass die Bevölkerung bei Strafe keine ausländischen Banknoten annehmen dürfe (fth 83, 25.7.45, S. 2). An die Adresse der amerikanischen Soldaten mahnt das US-Urlaubszentrum Mühlhausen (Elsass), sich anständig aufzuführen. Zwischenfälle mit Diebstahl von Uhren und Andenken aus Hotels waren offenbar an der Tagesordnung (vdf 99, 30.8.45, S. 1).

Touristen und keine Ausnahme bei der Rationierung
Die Urlauber verlangen oft zu den Hauptmahlzeiten als Getränk frische Milch. Leider ist im Milchland Schweiz die Milch immer noch rationiert. Auch Käse wollen die Amerikaner kaufen und sind überrascht, dass «dieses Produkt gegen Mahlzeitencoupons nicht abgegeben werden darf … Die Schweiz geht durch das Verbot der Lieferung von Käse an diese Urlauber einer wertvollen Propagandamöglichkeit … verlustig» (vdf 100, 1.9.45, S. 2). Korrekterweise war hier das Kriegswirtschaftsamt strikt mit dem Verteilen der Rationen: keine Ausnahmen für Touristen.

Umgang mit den Soldaten
Bemerkenswert ist das Vademecum für den Umgang mit den amerikanischen Soldaten (vdf 112, 29.9.45, S. 4). «Wenn amerikanische Urlauber vorbei spazieren, ist dies nicht ein Menagerie-Umzug». Schwieriger nicht zu gaffen wird es, «wenn es sich um Neger handelt. Denke daran, dass die Neger nichts dafürkönnen, wenn ihre Haut dunkel ist …» Und ausführlich wird an die Mädchen appelliert, «wann du einem Manne gegenüber, ganz einerlei welcher Nation und welcher Hautfarbe, ‹nein› zu sagen hast.» Es hängt also davon ab, ob ein solcher Amerikaner mit Achtung von den Schweizerinnen spricht, oder sie abfällig beurteilt. «Ganz abgesehen davon würde es Dir nicht schlecht stehen, wenn Du die gewisse Würde, die jeder Frau eigen sein sollte, auch in diesem Falle niemals übersehen würdest.» Dies gelte es auch bei den Internierten, «in letzter Zeit vor allem bei den Russsen» zu beachten.» (vdf 107, 18.9., S. 3). Die Heirat mit einem Kriegsgefangenen kann manchmal auch schiefgehen. «Vor zehn Tagen sind 20 Schweizerinnen in der Union gelandet, die in der Schweiz südafrikanische Kriegsgefangene geheiratet haben … Der Mann der einen, die mit dem Baby hier ankam, kann nicht gefunden werden, und ein anderer ist schon verheiratet.» (vdf 97, 25.8.45, s. 1).

Dieser Aufruf sieht diskussionslos die Frau in der Rolle der Verführerin, den Mann in der des Verführten. Diese weitverbreitete Meinung wird noch im Schlussbericht des Eidgenössischen Kommissariats für Internierung und Hospitalisierung (EKIH) 1947 mit zahlreichen Inspektionsrapporten belegt.


Nachrichten aus einer kriegerischen Zeit

Das Fricktaler Projekt «Kriegsnachrichten» macht die Originalausgaben der «Volksstimme aus dem Frickthal», der «Neuen Rheinfelder Zeitung» und des «Frickthalers» aus den Jahren 1939 bis 1945 im Internet für jedermann zugänglich. Zudem erscheint viermal jährlich ein Essay, basierend auf der Berichterstattung des jeweiligen Quartals, in welchem der Autor das Kriegsgeschehen thematisiert und unter verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet. Als dieses Projekt vor 11 Jahren gestartet wurde, ging es um einen Rückblick auf schlimme, längst vergangene Zeiten des Ersten und Zweiten Weltkrieges und die Wahrnehmung in der lokalen Öffentlichkeit. Nie hätten es die Initianten des Projektes für möglich gehalten, dass wir heute in Europa wieder einen Krieg erleben müssen. Thomas Bitterli, Autor des hier publizierten Beitrags, ist Historiker und Archäologe und arbeitet in der historischen Siedlungsforschung. (nfz)

www.kriegsnachrichten.ch


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