«Die meisten werden ihren Weg gehen»
30.04.2023 JugendLehrstelle statt Gymnasium: ein Gespräch
Markus Kindler unterrichtet an der Sekundar- und Realschule in Möhlin. Der Klassenlehrer einer 3. Sek erzählt, wie er Jugendliche bei ihrem bevorstehenden Sprung ins Berufsleben wahrnimmt und sie ...
Lehrstelle statt Gymnasium: ein Gespräch
Markus Kindler unterrichtet an der Sekundar- und Realschule in Möhlin. Der Klassenlehrer einer 3. Sek erzählt, wie er Jugendliche bei ihrem bevorstehenden Sprung ins Berufsleben wahrnimmt und sie unterstützt.
Ronny Wittenwiler
NFZ: Markus Kindler, die meisten Jugendlichen einer Sekundar- und Realschule machen eine Berufslehre.
Markus Kindler: Das ist richtig. In der Sekundarschule sind es rund neunzig Prozent.
Ganz im Gegensatz zur Bezirksschule, wo die meisten danach weiterführende Schulen besuchen. Ist es als Lehrer auf Stufe «SeReal» auch Ihre Aufgabe, den jungen Menschen zu vermitteln: Auch eine Berufslehre ist gut.
Das finde ich sogar sehr wichtig! Ein Gymnasium, eine Fachmittelschule, eine Wirtschaftsmittelschule ist nicht das einzige; auch eine Lehre ist toll, etwas, worauf man aufbauen kann und sich Türen öffnen. Das machen wir immer wieder deutlich an unserer Schule, auch an Elternabenden.
Vor dem Hintergrund weniger «Auswahlmöglichkeiten»: Muss man Jugendliche einer Realschule eher stärken in ihrem Selbstvertrauen?
Das eine ist das Selbstvertrauen. Das andere: Oft durch Migrationshintergrund kennen viele Eltern von Realschülerinnen und Realschülern unser Bildungssystem nicht richtig. Ihre Kinder brauchen somit ein stärkeres Coaching beim Bewerbungsprozess: Wie sieht ein Lebenslauf aus? Wie ein Motivationsschreiben? Ist alles fehlerfrei? Es geht aber auch um ganz praktische Dinge: Wie scanne ich ein Dokument? Ist es in einem PDF-Format? Da brauchen Realschüler in der Regel etwas mehr Hilfe. Obschon es auch in der Sekundarschule Jugendliche gibt, die eine solche Hilfe brauchen – weil eben die Eltern eine solche Unterstützung nicht bieten können, wie das bei anderen Familien der Fall ist.
Im Übergangsprozess von der Schule ins Berufsleben: Ist bei den jungen Menschen Angst zu spüren, wenn sie noch keine Lehrstelle haben?
Die meisten Lehrstellen werden zwischen September und Dezember vergeben – wer danach noch keine hat, kommt natürlich etwas unter Druck, die Optionen werden weniger. Es ist klar, dass das einen gewissen Druck und eine gewisse Angst auslöst.
Was ist dann Ihr Job?
Wer im Februar noch keine Lehrstelle hat, mit dem führe ich ein Gespräch, gemeinsam mit den Eltern. Da schauen wir an, wie es weitergeht: Sind noch Bewerbungen offen? Kann man irgendwo noch schnuppern? Und wir schauen das Anmeldeprozedere für das zehnte Schuljahr an. Es geht darum, den Jugendlichen Mut zu machen. Alle Schülerinnen und Schüler meiner Karriere – und die ist relativ lang – haben spätestens aus dem zehnten Schuljahr hinaus eine gute Lehrstelle gefunden. Das gilt es, ihnen für ein allenfalls zehntes Schuljahr weiterzugeben, auch wenn es anfangs vielleicht wie ein verlorenes Jahr wirkt: Aufs Leben gesehen ist es das definitiv nicht!
Die heutige Jugend taugt nichts – glaubten schon die alten Griechen zu wissen.
Ich sehe das nicht so. Die Jugendlichen von heute sind anders, genau wie das jede Generation vor ihr war. Sie ist mit anderen Herausforderungen konfrontiert. Viele Jugendliche sind sehr anständig und auch sehr angepasst, vielleicht sogar mehr, als wir das zum Teil gewesen sind (lacht). Oft kommen Jugendliche übrigens nach einem halben Jahr vorbei und erzählen, wie es ihnen nun in der Lehre geht. Dieser Entwicklungsschritt, den sie noch einmal machen im Berufsleben, in der Erwachsenenwelt
– da ändert sich die Persönlichkeit noch einmal, und sehr oft in eine positive Richtung. Zuvor sind es halt Jugendliche. Schule «schisst» manchmal halt an, man weiss noch nicht so recht, wozu man all das überhaupt lernen soll. Aber nochmals: Ich finde, die meisten Jugendlichen sind sehr zu gebrauchen und sie werden ihren Weg gehen.
Apropos «schisst mi a»: Wenn Jugendliche im letzten Schuljahr ihre Lehrstelle auf sicher haben, ist da überhaupt noch Motivation für den Schulstoff vorhanden?
Man muss sie sicher bei der Stange halten, das ist so. Indem sie sich darüber schlau machen müssen, in welchen Fächern sie während der Berufslehre weiterhin unterrichtet werden, zeige ich ihnen allerdings auf: das geht ja alles weiter. Es geht auch darum, aufzuzeigen: Wenn sie in der Gewerbeschule ungenügend sind, müssen sie die Lehre aufgeben. Dass also vieles wichtig bleibt und in gewissen Fachbereichen relevant ist – das leuchtet den meisten auch ein.
Berufliche Orientierung als Fach
Der Lehrplan 21 beinhaltet das Fach «Berufliche Orientierung»; gelehrt wird es in der achten Klasse. Das Thema nehme allerdings deutlich mehr Zeit in Anspruch, sagt Markus Kindler. «Der Berufswahlprozess begleitet Jugendliche durch die gesamte Oberstufe. Da passiert sehr viel in Einzelgesprächen. Sich für jede einzelne Schülerin und jeden einzelnen Schüler Zeit nehmen, ist sehr wichtig.» Häufig seien es Prozesse, die nebenher stattfinden, nach dem gängigen Unterricht. Doch selbst die engagierteste Lehrperson ersetzt nicht die Berufsberatung. «Vielmehr ergänzen sich Schule und Berufsberatungen», sagt Markus Kindler. Das funktioniere sehr gut. (rw)
Handwerker, Pflegerinnen – gefragte Leute
Berufswünsche würden immer wieder variieren, sagt Kindler. «Jede Klasse hat ein bisschen ihre Lieblingsberufe. Bei meiner ist es das Kaufmännische. Fast zehn Schülerinnen und Schüler haben eine KV-Lehrstelle gefunden.»
Bei den Realschulabgängerinnen sind Berufe wie Fachfrau Gesundheit und Fachfrau Betreuung gesucht; bei Realschulabgängern dominieren tendenziell Handwerksberufe. Hierzu sagt er: «Vielen von ihnen ist das anfangs oft nicht bewusst – aber das werden irgendwann dann noch ganz gefragte Leute werden.» (rw)