Die erste Schweizer Medizinstudentin kam aus Bözen
24.03.2025 PersönlichUrs Frei befasst sich intensiv mit Marie Heim-Vögtlins Leben
Dass die Pfarrerstochter aus Bözen Medizin studieren konnte, war alles andere als selbstverständlich. Das Leben der ersten Schweizer Ärztin ist auch über 100 Jahre nach ihrem Tod aktuell. ...
Urs Frei befasst sich intensiv mit Marie Heim-Vögtlins Leben
Dass die Pfarrerstochter aus Bözen Medizin studieren konnte, war alles andere als selbstverständlich. Das Leben der ersten Schweizer Ärztin ist auch über 100 Jahre nach ihrem Tod aktuell. Lokalhistoriker Urs Frei wird regelmässig für Vorträge zum Thema gebucht.
Karin Pfister
«Liebe Freundin, du hast mich um Angabe einer Schrift gebeten, woraus du praktische Belehrung für deine Aufgabe als Mutter schöpfen könntest. Obschon eine Reihe von empfehlenswerten Schriften über Kinderpf lege zu nennen wären, biete ich dir an, deine Ratgeberin zu sein.» Diesen Text schrieb Marie Heim-Vögtlin als Vorwort ihres Buches «Die Pflege des Kindes …», das 1907 erschien. Sie wirkte ein Berufsleben lang in Zürich, war aber in Bözen, heute einer von vier Ortsteilen der Gemeinde Böztal aufgewachsen, wo ihr Vater als Pfarrer amtete und im Nebenerwerb in der Landwirtschaft tätig war.
Geboren in Bözen
Geboren wurde die erste Schweizer Ärztin am 7. Oktober 1845 in Bözen. Das ehemalige Pfarrhaus existiert bis heute. Lange Zeit wurde es vom mittlerweile verstorbenen ehemaligen Lehrer Hans Etter bewohnt; inzwischen wurde es verkauft und befindet sich in Privatbesitz. Am Haus ist eine Gedenktafel installiert, die an das Wirken und das Leben von Marie Heim-Vögtlin erinnert.
Weitere Spuren von ihr sind im Dorf nicht mehr zu finden, weiss Lokalhistoriker Urs Frei. Mehrere Biografien erinnern an die Ärztin, darunter jene von Johanna Siebel, welche 1919 veröffentlicht wurde und jene von Verena E. Müller aus dem Jahre 2007. Vor einigen Jahren machte sich Lokalhistoriker Urs Frei ebenfalls auf die Suche nach Spuren der Ärztin. «Ich wollte ihr Leben in Bildern erzählen und Orte und Landschaften mit einbeziehen.» Das Buch aus dem Jahre 2020 enthält keine neuen Fakten, sondern zeigt die zahlreichen Lebensstationen anhand von alten und neuen Fotos. Entstanden ist so ein eindrückliches Werk, welches dem Leser den Alltag der ersten Schweizer Ärztin, die auch begeisterte Berggängerin war, nahe bringt.
Dass über Marie Heim-Vögtlin so viel bekannt ist, sei ihren intensiven Brieffreundschaften zu verdanken, so Urs Frei. Zahlreiche Originalausschnitte aus Briefen sind im Buch abgedruckt. So schreibt sie über ihre Kindheit an eine Freundin: «Ich erlebte meine ganze Kindheit auf dem Lande. Da ich in dem einsamen Dorfe Bözen keine Gespielen hatte, suchte ich meine Vergnügungen im Feld und Wald und es ist wohl dieser Umstand, dem ich meine spätere Liebe zu Naturwissenschaften verdanke.» Mit viel Begeisterung habe sie jeweils unter der glühenden Sonne nach Ammoniten gesucht.
Viel Neues erfahren
«Während der Arbeit am Buch habe ich viel Neues über sie und ihr Umfeld erfahren. Dass ihr Vater ihr ein Medizin-Studium ermöglichte, war eine riesige Sache. Ich konnte mich rückwirkend in die inneren Kämpfe, die er damals vermutlich deswegen ausgetragen hat, einfühlen.» Nachhaltig beeindruckt ist Urs Frei von Marie Heim-Vögtlins gelebter Nächstenliebe und ihrem Mitgefühl. «Sie hat zum Beispiel, als sie schon als Ärztin tätig war, zusammen mit ihren Hausangestellten und weiteren Frauen Weihnachtsgeschenke für arme Patientinnen gestrickt und genäht.»
«Wo mein Plan Tagesgespräch wird»
Als Marie im Jahre 1868 den Vater bat, Medizin studieren zu dürfen, brach nicht nur in ihrer Verwandtschaft, sondern auch in Brugg und schliesslich in der gesamten Nation ein Sturm der Entrüstung los. Vor ihr hatten erst zwei ausländische Studentinnen Medizin studiert. Marie Heim-Vögtlin schreibt am 20. Februar 1868: «Die Zeit hat nun begonnen, wo der allgemeine Sturm losbricht, wo mein Plan das Tagesgespräch wird. Der Bund und die Neue Zürcher Zeitung haben sich bereits desselben bemächtigt, um ihn in die Öffentlichkeit zu tragen und ihm einen so unaussprechlich gemeinen Beweggrund zu geben, dass ich lange den liebenswürdigen Artikel nicht verstand. Mir selbst macht dies sehr wenig Eindruck, ich habe ein gutes Gewissen bei der Sache und werde mich von niemandem ihrer schämen.» Immer wieder sei versucht worden, sie von ihrem Studium abzuhalten, weiss Urs Frei. Darunter waren auch subtile Methoden; so erhielt sie zum Beispiel bei der Weinlese bei der Familie Stäbli am Bruggerberg und auch in Bözen und Schinznach diverse Heiratsanträge, die sie allesamt ablehnte.
1873 konnte Marie Heim-Vögtlin trotz aller Schwierigkeiten und Widerstände ihr Staatsexamen ablegen. Danach fuhr sie für eine Weiterbildung nach Leipzig. Urs Frei schreibt: «Die Situation wurde zunehmend unerträglich. Wenn sie einen Hörsaal betrat, wurde sie oft angepöbelt. Und es kam soweit, dass sie draussen warten musste und dann erst mit einem Professor den Saal betreten konnte.»
1874 legte sie in Zürich das Doktor-Examen ab, danach eröffnete sie ihre Praxis an der Hottingerstrasse, die sie bis an ihr Lebensende betrieb. 1875 heiratete sie Albert Heim; die beiden hatten drei Kinder; das jüngste starb noch als Baby. In der Familie lebte auch ein Pflegekind. Dass sie auch als Ehefrau und Mutter in Zürich als Ärztin wirken konnte, verdankte sie auch ihrem Ehemann, einem Geologieprofessor, der für die damalige Zeit fortschrittlich eingestellt war. Ein Meilenstein in ihrem Leben war die Eröffnung der Pflegerinnenschule und des Frauenspitals im Jahre 1901. Für beides hatte sie sich jahrelang und mit viel Durchsetzungsvermögen engagiert. 1912 erkrankte Marie Heim-Vögtlin an Tuberkulose, sie starb 1916.
Auf Lebzeit verbunden
Marie Heim-Vögtlin blieb Zeit ihres Lebens mit dem Dorf ihrer Kindheit verbunden. Ihr Vater hatte einen Rebberg in Bözen und die Familie besass von Mutters Seite her auch Reben in Schinznach. Marie Heim-Vögtlin half als erwachsene Frau regelmässig bei der Traubenernte, auch als ihr Vater bereits in Brugg Pfarrer war. Eine besondere Ehre erfuhr sie zu ihrem 100. Todestag. Hans Etter, der jahrzehntelang das ehemalige Pfarrhaus bewohnte, erreichte mit Gesuchen und Gesprächen, dass die Post eine Sonderbriefmarke heraus gab.
Urs Frei ist als Landschaftsführer beim Jurapark Aargau tätig.
Über diese Anlaufstelle sind der Vortrag sowie weitere Veranstaltungen zur Medizingeschichte im Aargau buchbar.