Was wäre, wenn wir moralisch um- statt aufrüsten würden?
Oder weshalb eine «Ich-will-Ethik» Wertekompass sein sollte.
Wir leben im Dauerkrisenmodus: Kriege, Terror, Klimawandel, soziale Spannungen. Die Welt ...
Was wäre, wenn wir moralisch um- statt aufrüsten würden?
Oder weshalb eine «Ich-will-Ethik» Wertekompass sein sollte.
Wir leben im Dauerkrisenmodus: Kriege, Terror, Klimawandel, soziale Spannungen. Die Welt wirkt aus den Fugen, und mit ihr auch unser moralisches Selbstverständnis. In solchen Zeiten scheint es fast naheliegend, den moralischen Zeigefinger zu heben – gegen andere, gegen Systeme, gegen die Unmenschlichkeit der Welt. Doch was, wenn genau das Teil des Problems ist? Was wäre, wenn das Streben nach immer mehr Moral – kodifiziert, theoretisch klar begründet, universell einforderbar – uns nicht rettet, sondern lähmt? Tatsächlich mangelt es nicht an ethischen Prinzipien, Menschenrechtskonventionen und Erklärungen. Sie bilden ein wertvolles Fundament – doch sie schaffen nur begrenzt die moralische Praxis. Die Wirklichkeit bleibt oft immun gegen gutgemeinte Appelle. Der moralische Zeigefinger, der selten auf das eigene Ich zeigt, erzeugt eher Abwehr als Einsicht. Was also tun?
Vielleicht hilft kein «Mehr» an Moral, sondern eine andere Qualität, ein anderer Zugang: Ein moralisches Umrüsten statt Aufrüsten. Eine Ethik, die nicht auf Prinzipien, sondern auf Persönlichkeit setzt. Auf innere Haltung statt äussere Forderung. Auf das, was man im Gegensatz zur «Du-sollst-Ethik» eine «Ich-will-Ethik» nennen könnte – geprägt von persönlicher Integrität, nicht von moralischen Vorschriften. Der Schlüssel dazu? Bescheidenheit. Der Verzicht auf Rechthaberei, auf die Deutungshoheit über das Gute. Die Bereitschaft, Nichtwissen einzugestehen, aus Irrtümern zu lernen, Pluralität auszuhalten und im Dialog gemeinsam klüger zu werden. Tugenden, die nicht blenden, sondern tragen. Die nicht polarisieren, sondern verbinden.
Was wäre, wenn genau diese Haltungen – leise, aber kraftvoll – den Anfang einer anderen Art des Miteinanders wäre? Einer, die Hoffnung nicht aus moralischem Anspruch, sondern aus menschlicher Reife schöpft? Vielleicht ist es Zeit, weniger moralisch aufzurüsten – und endlich wieder menschlicher zu werden.
Zwei persönliche Reflexionsfragen:
• Wo verlasse ich mich auf moralische Prinzipien – und wo auf meine inneren Regeln?
• Was wäre, wenn ich meine Werte leiser, jedoch klarer leben würde?
Wertetagebuch – die Einladung für ein persönliches Experiment:
Führen Sie ein Tagebuch, in dem Sie Ihre Gedanken bezüglich Ihrer Werte und deren Bedeutung in verschiedenen Lebenssituationen dokumentieren. Notieren Sie, welche Werte in verschiedenen Konstellationen für Sie besonders bedeutsam waren und sind. Überlegen Sie, ob Ihre Antwort vor zehn Jahren gleich ausgefallen wäre. Verleihen Sie Ihren handlungsleitenden Werten und Ihrer «Ich-will-Ethik» ein Gesicht.
Wir sind gespannt auf Ihre Erfahrungen. Ihre Meinung interessiert uns: redaktion@nfz.ch
Die «Denkreise» will aufrütteln – leise, aber nachhaltig. Jede Etappe bietet eine Möglichkeit, die eigene Erfahrungswelt kritisch zu hinterfragen. Denken jenseits der Norm kratzt an Gewissheiten. Es weitet den Blick für das, was denkbar ist. Machen Sie mit. Denken Sie mit. Und vielleicht auch: Denken Sie um!