Oder weshalb es gilt, mit der Komplexität tanzen zu lernen.
Im Alltag ist Komplexität die ständige Begleiterin, die uns oft überfordert, jedoch stets herausfordert und viele beklagen ein Gefühl der Erschöpfung. Die Antwort scheint ...
Oder weshalb es gilt, mit der Komplexität tanzen zu lernen.
Im Alltag ist Komplexität die ständige Begleiterin, die uns oft überfordert, jedoch stets herausfordert und viele beklagen ein Gefühl der Erschöpfung. Die Antwort scheint naheliegend: Wir müssten endlich «Komplexität aus dem System nehmen». Vereinfachen, runterbrechen, entwirren – so lautet das Mantra einer überforderten Gesellschaft.
Aber was, wenn genau das der Denkfehler ist? Der Versuch, Komplexität zu eliminieren, ist ein Rückfall in ein Denken von gestern – trivial, mechanistisch, illusorisch. Stattdessen gilt es, die Realität zu akzeptieren: Wir leben in einer Blackbox-Gesellschaft, in der Kausalitäten unscharf und Planbarkeiten brüchig sind. Und genau hier kommt ein unterschätzter Begriff ins Spiel: Vertrauen. Nicht als naive Hoffnung oder spirituelle Flucht – sondern als strategische Haltung. Vertrauen in mich selbst, wenn ich Unsicherheit nicht mehr als Schwäche, sondern als Startpunkt innerer Souveränität begreife. Vertrauen in andere, wenn Beziehungen nicht auf Kontrolle, sondern auf echter psychologischer Sicherheit beruhen. Vertrauen in Organisationen, wenn deren Verlässlichkeit nicht nur proklamiert, sondern erlebbar ist. Und schliesslich: Vertrauen in das ergebnisoffene Experiment – wenn Planung versagt, aber das mutige sich empor irren neue Wege öffnet.
Vielleicht geht es nicht darum, Überforderung zu besiegen – sondern sie als Spiegel zu lesen: Wo folgen wir unrealistischen Erwartungen? Wo sind wir Mitverursacher unserer eigenen Überlastung? Wer diese Fragen zulässt, erkennt: Handlungsfähigkeit entsteht nicht durch Vereinfachung, sondern durch ein neues Tanzen mit der Komplexität. Stolpernd, aber lernfähig. Irrend, aber offen. Was wäre, wenn genau darin unsere Stärke läge? Ein Denkimpuls für alle, die noch hoffen, dass der Überblick zurückkehrt. Vielleicht ist es Zeit, ihn loszulassen – und Vertrauen in das Vertrauen zu fassen.
Zwei persönliche Reflexionsfragen:
• Wie könnte die Choreografie für meinen Tanz mit der Komplexität aussehen?
• Was wäre, wenn ich mein Bedürfnis nach Planbarkeit loslassen könnte?
Atypische Lebensbiografien – die Einladung für ein persönliches Experiment:
Umgeben Sie sich mit Mitmenschen und Mitarbeitenden, die nicht zu Ihnen passen. Diese Nicht-Passung bezieht sich nicht auf die Werteebene, sondern kann sich beispielsweise in abweichenden Ausbildungswegen, Erfahrungen oder kulturellen Hintergründen manifestieren. Durch das Zulassen von Vielfalt entstehen kontroverse Sichtweisen, die letztlich dazu beitragen, besser mit Komplexität umzugehen.
Wir sind gespannt auf Ihre Erfahrungen. Ihre Meinung interessiert uns: redaktion@nfz.ch
Die «Denkreise» will aufrütteln – leise, aber nachhaltig. Jede Etappe bietet eine Möglichkeit, die eigene Erfahrungswelt kritisch zu hinterfragen. Denken jenseits der Norm kratzt an Gewissheiten. Es weitet den Blick für das, was denkbar ist. Machen Sie mit. Denken Sie mit. Und vielleicht auch: Denken Sie um!
Hans A. Wüthrich wohnt in Rheinfelden. Er ist emeritierter Universitätsprofessor, Fachbuchautor und engagiert u. a. in der Stiftung MBF und Spitex Fricktal AG.