Brief an die Hoffnung

  21.12.2023 Fricktal

Vielleicht setzen wir in die Hoffnung falsche Erwartungen.
Wenn wir doch nur den Mut hätten, ihr zu vertrauen.

 

Ihm stand das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Er sah dem Licht hinterher, wie es kleiner und kleiner wurde. Dann verschwand es, mit all seinen Träumen, in einem einzigen dunklen Nichts. Er wollte nur noch schreien. Doch ihm fehlte die Luft.

Was wissen wir schon über diesen einen Menschen, den nichts mehr hält. Es war Winter, 1956.

 

«Darf ich?»
Die Art, wie die Kleine ihn ansah; als öffnete sie ihm ein Tor in die Vergangenheit. Der Grossvater erwiderte ihr Lächeln. Dann hob er sie auf den Schoss. Seine Liebsten versammelt beieinander. Einen schöneren Heiligabend konnte er sich nicht vorstellen. «Und wer erzählt uns jetzt eine schöne Geschichte?»

Sein Sohn runzelte die Stirn. «Und wenn sie nicht gestorben sind…»

 

Was wissen wir schon über diesen einen Menschen, den nichts mehr hält. Nichts mehr hält in einem Land, weil er nichts mehr hat; vielleicht einen Koffer noch, gerade gross genug für das Nötigste und ein paar Träume. Der Krieg ist vorbei, hat es geheissen. Nie mehr, hatten sie gesagt. Nie mehr Krieg. Doch würde man auch Frieden finden? Menschen reden viel.

Dann ging er los.

 

«Niemand?», fragte der Alte. «Niemand will uns eine schöne Geschichte erzählen, nicht mal der Papa?» Mit grossen Augen sah die Kleine ihren Papa an, er sass den beiden direkt gegenüber. Doch der schüttelte bloss den Kopf.

«Ich weiss gar nicht, was du hast», sagte der Alte. «Wir alle würden uns sehr freuen. Das ist Weihnachten! Du siehst die Dinge viel zu eng, mein Sohn.»

«Und Grossmutter», sagte die Kleine und beugte sich nach vorn. Mit dem Zeigefinger berührte sie vorsichtig die Blüte einer Lilie. Auch Grossmutter würde sich bestimmt freuen über eine Geschichte, «sie kann uns doch hören!»

 

Als hätte jemand ein bleiernes Tuch über die Stadt gelegt, der Himmel war geschlossen. In den Gassen verstopften Menschenmassen den Weg. Was wissen wir schon über diesen einen Menschen, den nichts mehr hält.

Aufbruch.

 

Er mochte solche Geschichten nicht sonderlich. Für ihn waren sie doch alle gleich. Zuerst ist es aussichtslos, dann trifft alles ein wie gewünscht. Die anderen Geschichten aber, sie liefen doch in den Nachrichten, jeden Tag. Er schob die Vase mit den Blumen zur Seite, um den Wein greifen zu können. «Schaut euch diese Welt doch einmal an. Es ist hoffnungslos.»

Noch im selben Moment, wie er diesen Gedanken tatsächlich aussprach, im Kreise der Familie und besonders in Gegenwart seiner kleinen Tochter, da bereute er sogleich. «Entschuldigt bitte, so wollte ich das nicht.» Er schämte sich.

«Aber Grossmutter», sagte die Kleine noch einmal, nur leiser, und jetzt klang es wie eine Frage: «Sie kann uns doch hören, dort oben im Himmel?»
Stille.

«Stell dir mal vor», sagte der Alte mit stoischer Gelassenheit und sah seinem Sohn dabei direkt in die Augen. «Stell dir mal vor, du würdest einen Brief schreiben. Einen Brief an die Hoffnung. Was stünde da drin?»

Vorbei an alten Häusern. Neuanfang. In wenigen Minuten würde es so sein. Vor ihm baute sich dieses gigantische Gebäude auf, Empfangshalle der Hoffnung. Was wissen wir schon über diesen einen Menschen, den nichts mehr hält. Seine ganze Entschlossenheit hatte er in diesen Tag gesetzt. Das Signal ertönte.

Er spürte, wie sein Körper bebte.

«Ich würde sie fragen, warum sie uns Menschen verlassen hat.»

«Falsch!», entgegnete der Alte. «Nicht sie hat uns verlassen, sondern wir Menschen haben sie verlassen. Weil uns der Mut fehlt.»

«Ist hoffen denn mutig?», fragte der Sohn.

«Nun ja», sagte der Alte. «Erst durch die Hoffnung nehmen wir in Kauf, dass sich Dinge nicht so entwickeln, wie wir sie uns wünschen. Das ist mutig, weil wir dadurch Enttäuschung erleben könnten. Wer dagegen die Hoffnung aufgibt, braucht keine Enttäuschung mehr zu fürchten. Doch sag mir, mein Sohn: Wo kämen wir denn hin, ohne Hoffnung?»

Als hielt ihm der Alte mit erstaunlicher Brillanz einen Spiegel vor; ihm, der doch wenig Grund hatte, sich zu beklagen. Er hatte eine wunderbare Familie, ein gutes Leben. Und obschon er seinen kritischen Blick auf die Welt berechtigt fand, so fühlte er sich in seinem eigenen Weh klagen ertappt.

Was wäre diese Welt, ohne Hoffnung?

Steh mir bei.

Steh mir bei auch in Stunden des Zweifels.

Steh mir bei auch im Moment grosser Enttäuschung.

Steh mir bei, wenn alles zu schwinden droht.

Und fehlt mir die Gewissheit, so bleibst immer noch du an meiner Seite.

Dann steckte der junge Mann seinen Brief an die Hoffnung in den Mantel und ging los. Was wissen wir schon über diesen einen Menschen, den nichts mehr hält.
Schicksalstag.

Doch nun stand ihm das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Er sah dem Licht hinterher, wie es kleiner und kleiner wurde. Dann verschwand es in einem einzigen dunklen Nichts.

Er kam zu spät.

Mit dem Zug verliessen all seine Träume den Hauptbahnhof.

«Vielleicht», sagte der Alte nun zu seinem Sohn, «vielleicht setzen wir in die Hoffnung falsche Erwartungen. Wenn wir doch nur den Mut hätten, ihr zu vertrauen.» Denn schon die Hoffnung selbst bringe Menschen bereits dorthin, wo sie ohne die Hoffnung niemals erst gekommen wären. «Und dann nimmt das Leben einen Lauf, wie wir ihn in unseren kühnsten Träumen nie zu träumen gewagt hätten.»

Wie er später an diesem Heiligen Abend seiner kleinen Tochter und ihrem Grossvater beim Spielen zusah, da begriff er, wie sie alle Teil dieser Geschichte waren; eine Geschichte über Hoffnung, begonnen lange vor seiner Zeit.

In sich gekehrt, sass er auf einer Bank neben den verlassenen Geleisen. Die Hoffnung hatte ihn doch so weit gebracht, und nun?

«Darf ich?»
Die Art, wie sie ihn ansah. Er nickte vorsichtig. «Dieses Land hat eine Chance verdient», sagte sie und in ihrem Haar trug sie eine weisse Lilie.

Es war Winter, 1956.
Im darauffolgenden Frühling wurden sie ein Paar.

                                                                                             


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