Die Italiener in Möhlin

  05.05.2024 Möhlin

Die Italiener in Möhlin – woher sie kamen und was aus ihnen geworden ist

1968 gründen italienische Arbeitsmigranten den Circolo Acli in Möhlin. Über 55 Jahre später lässt sich sagen: Als hätte jemand eine Mauer mit Vorbehalten eingerissen.

Ronny Wittenwiler

Auf dem Tisch Mandeln aus Sizilien, und über einem selbst gebastelten Meisterpokal der Schal der SSC Neapel; noch hängt er.

Willkommen in Möhlin
Hier, an der Hauptstrasse 17, ist der Circolo Acli zuhause. Manchmal geht es hier zu wie im Bienenstock, heute nicht. Es ist ein Tag, um innezuhalten, zurückzublicken. Die Italiener in Möhlin: Woher kamen sie und was ist aus ihnen geworden? Agostino Oliva und Natale Di Giovanni erzählen davon.
Oliva ist Präsident von Acli in Möhlin. Die Christliche Vereinigung Italienischer Arbeitnehmer ist weltweit in dreissig Ländern präsent (siehe Kasten). Ihre Gründung fusste auf dem Bestreben, italienischen Arbeitsmigranten in einer ihnen fremden Kultur Orientierung zu geben. Zudem war Acli vielen eine Art Heimathafen in der Fremde.

Alles Schnee von gestern? Ja. Und Nein.

Generation «ohne» Eltern
Natale Di Giovanni gehört zum Vorstand von Acli in Möhlin. Mit Präsident Oliva sitzt er jetzt um den langen Tisch im Vereinslokal und erzählt. Von den Kindern, den Grosskindern. Hier sind sie geboren, hier sind sie aufgewachsen, hier leben sie. Als würde man einen Hans Meier oder einen Karl Müller übers Leben sprechen hören. Und doch: Es gab auch eine Zeit davor. «Mein Vater kam als Strassenbauer 1961 nach Badisch Rheinfelden», erzählt Agostino Oliva. Zwei Jahre später, über einen Onkel bei der Josef Meyer AG, kam der Vater nach Möhlin, 1964 die Mutter. «Wir Kinder blieben in Italien. Bis 1967 lebten wir bei unserer Grossmutter, danach im Internat.» Erst Jahre später war die Familie wieder vereint. Auch Natale Di Giovanni hatte seine Eltern kaum gesehen, bis er seine Pflichtschule beendete. «Jeweils in meinen Sommerferien in der Schweiz und jeweils über Weihnachten und Neujahr in Italien.» Vielen ihrer Generation war es so ergangen. «Klar ist das noch immer in uns», sagt Di Giovanni.

Jene Zeit stellte vieles und viele auf die Probe, hier gar ein ganzes Land. Die Schwarzenbach-Initiative (1970) sah die Italiener lieber wieder auf der anderen Seite des von ihnen miterbauten Gotthardtunnels. «Das war hart», sagt Natale Di Giovanni. Trotz abgelehnter Initiative: «Es herrschte Unsicherheit», sag t Agostino Oliva. «Viele sind später freiwillig zurück nach Italien, aus Angst, dass man sie früher oder später sonst rausschmeisst.» Viele aber sind auch geblieben. Und mit ihnen ein Lebensstil.

Jahre der Annäherung
Natale Di Giovanni lacht. «Vai al negozio a comprare un vino», sagt er in einem Italienisch, das klingt wie ein Kunstwerk – um gleich wieder in bester Mundart fortzufahren: «In den Anfängen, als mich mein Vater hier in den Laden schickte, um einen Wein zu besorgen, da gab es in den Regalen nur Chianti und vielleicht noch ein paar Flaschen Valpolicella.» Espresso? Ristretto? Kaffee war einfach Kaffee, mit und ohne Crème. Heute hingegen ist dieses Italienische in seinen zahllosen Facetten längst ein Teil dessen, was es als Sprache schon immer gewesen ist: ein Teil der Schweiz. Eine Bereicherung.

Dass es so kam, dürfte viel mit dem Circolo Acli zu tun haben. Jener in Möhlin wird 1968 gegründet. «Das war wichtig», sagt Agostino Oliva. «Die Italiener arbeiteten acht, neun Stunden täglich, das funktionierte, aber sie hatten keinen gemeinsamen Treffpunkt für ihre Freizeit.» Ganz entscheidend für das spätere Leben der Italiener in der Schweiz war die Rolle von Acli in der Ausbildung. Nochmals Oliva: «Acli gab den italienischen Migranten Deutschkurse und bot ihnen Hilfestellung bei der beruf lichen Ausbildung an.» Diplomkurse für immigrierte Handwerker waren gar vom Erziehungsdepartement anerkannt.

Wissen, was es heisst: fremd zu sein
Heute sind derartige Anstrengungen im Circolo Acli in Möhlin nicht mehr nötig. Vielleicht aber sind es die eigenen Familiengeschichten über zwei, gar drei Generationen hinweg, welche die Mitglieder von Acli heute antreiben. «Uns geht es doch gut», sagt Natale Di Giovanni. «Unsere Eltern durften hierherkommen, wir durften uns hier entwickeln und voll integrieren. Von all dem wollen wir etwas zurückgeben.» Zwar sei die Welt jetzt eine andere im Vergleich zu damals, als ihre Eltern ausgewandert seien, sagt Agostino Oliva. Vielleicht aber sei ihnen allen tief drin eine gewisse Sensibilität dafür geblieben, was heisst, fremd zu sein. «Wieso sollen wir unsere eigenen Erfahrungen nicht nutzen?»

Als vor zwei Jahren die ersten Ukrainer nach der Flucht aus dem Krieg in Möhlin angekommen waren, handelte der Circolo Acli. «Wir haben sie zu uns eingeladen und sie mit einem Teller Spaghetti, feinen Dolci und Caffè willkommen geheissen.» Natale Di Giovanni sagt das frei von jeglichem politischen Aktivismus. Ihnen gehe es einzig und allein um solidarisches Handeln. Das war schon immer so.

Ein neuer Schal muss her!
Am Tag vor diesem Gespräch war Di Giovanni noch in Sizilien. Die Mandeln auf dem Tisch, die er mitgebracht hat, sind während des Gesprächs weniger geworden. Und auch der Schal der SSC Neapel über dem Scudetto wird seinen Platz räumen müssen. «Diese Zeremonie müssen Sie unbedingt mal erlebt haben», sagt Di Giovanni und lacht. Dann nämlich, wenn sie im Circolo Acli an der Hauptstrasse 17 den Gewinner der italienischen Fussballmeisterschaft unter grossem Brimborium aller Beteiligten küren. «Dann bekommt der neue Meister seinen Platz über dem Pokal.» Man ahnt es: ihre Italianità, diese ureigene Lust am Leben, werden sie in ihrem Leben nicht mehr los. Und das ist gut so. Hat sie doch massgeblich dazu beigetragen, dass zwischen Möhlin und seinen Italienern längst eine Liebesgeschichte geworden ist.

Mit den besten Glückwünschen an Inter Mailand.

Neben Agostino Oliva (Präsident) und Natale Di Giovanni besteht der Vorstand von Acli Möhlin aus Franco Cangeri, Piero Bonfiglio, Giuseppe Oliva, Felice Passaro, Massimo Calcaterra, Gianluca Cangeri, Luigi Oliva und Stefano Di Pasqua.


In Möhlin und der Welt

Mit knapp über einer Million Mitgliedern ist der Circolo Acli weltweit in über 30 Ländern präsent. In der Schweiz sind es etwa 4000 Mitglieder, verteilt auf 37 Circoli. Der Circolo Acli in Möhlin besteht aus rund 130 Mitgliedern. Neben der beruflichen Ausbildung hat sich Acli Möhlin seit jeher im sportlichen Bereich durch seine Fussballmannschaft (Acli) hervorgetan, einem Paradebeispiel an Integration. Bis 1996 eine Untersektion beim FC Möhlin-Riburg, kam 2007 die Fusion. Seither heisst der Fussballclub im Dorf FC Möhlin-Riburg/ACLI.

Vielfältig aktiv
Acli Möhlin engagiert sich stark für das gesellschaftliche Leben. Organisiert werden Zusammentreffen von Mitgliedern und weiteren Interessierten: gemeinsame Fussballabende mit Nachtessen, Informationsabende, kulinarische Veranstaltungen, Konferenzen, Anlässe für Frauen, Kinder und für ältere Personen wie zum Beispiel gesellige Mittagessen für Senioren (zweimal im Monat, jeweils donnerstags). Seit Jahren bekocht Acli einmal im Jahr Bewohnende der Stiftung MBF in Stein.

Ursprünglich stand «ACLI» für «Associazioni Cristiane Lavoratori Italiani» (Christliche Vereinigungen Italienischer Arbeitnehmer). Mittlerweile steht die Abkürzung für «Associazioni Cristiane Lavoratori Internazionali» (rw)


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote