Von flimmerndem Schein und bitterer Realität

  01.04.2022 Aargau

Gedanken zu Russland und der Ukraine

Gastbeitrag von Michael Derrer*

In den frühen 1990ern konnte ich die Reste der bankrotten UdSSR beobachten. Den Geruch von billigem Linoleum und nachlässig getünchter Wandfarbe, die nie richtig austrocknete, habe ich bis heute in der Nase. Der Kommunismus hatte abgedankt, aber wie ein Untoter bewegte sich die Gesellschaft, die aus der sowjetischen Konkursmasse hervorging, weiter.

Die Tage des reichen Moskau sind gezählt
Die Entwicklung in den 30 Jahren war rasant. Auf bruchstimmung setzte ein. Die Neugierde gegenüber der Welt war gross. Die russische Hauptstadt wurde wohlhabend. Im Januar 2022 war ich Zeuge der Kulmination dieser Entwicklung: Aus Moskauer Shopping Malls, den grössten in ganz Europa, sandte ich Fotos an meine Bekannten, als Inspiration für Geschäftsideen, die in der Schweiz noch nicht realisiert sind. Das Essen in gewissen Imbissketten war von einer Qualität, wie man es in Gourmet-Restaurants erwarten würde. Taxifahrern bereitete ich Kopfzerbrechen, da ich der Einzige war, der noch Bargeld verwendete und sie kein Rückgeld parat hatten, so weit war die Digitalisierung fortgeschritten. Ein zentraler Moskauer Park war mit der die stilvollen Ästhetik eines Wintermärchens gestaltet. Die Innenstadt war gefüllt mit hunderten Boutiquen internationaler Luxusmarken. Junge Kosmopoliten fragten sich in den Bars, ob sie in London, Zürich oder doch für eine Weile in Moskau arbeiten wollen. Ein Geschäftsmann brachte mich mit dem grossen Porsche zu seiner Datscha, in dem nur weniges nicht aus Marmor besteht.

Dieses Moskau, das in drei Jahrzehnten entstanden war, wird es nun nicht mehr geben. Zwar sieht man heute noch seine untoten Reste, aber jeder spürt und weiss, dass der Reichtum dieser Stadt nun in schnellem Schritt verschwinden wird, im Zuge der wirtschaftlichen Sanktionen, mit denen der Westen auf Putins Krieg geantwortet hat.

Das Russland, das ich kannte, ist verschwunden
Ersetzt wurde das komplexe, widersprüchliche und doch vertraute Russland, graduell und dann sehr plötzlich, durch eine hellglänzende Inszenierung. Jugendliche Gesichter sind darin gleichzeitig Publikum und Statisten, nationale Fahnen werden im Takt patriotischer Lieder über Pflicht und Selbstaufopferung geschwenkt, und ein alternder Vladimir Putin ruft auf der Bühne zum Kampf gegen den Feind im Innern auf. Das Spektakel hat eine dunkle Hinterseite: Für den Straftatbestand «Wahrheit» drohen 15 Jahre Haft.

Die Propaganda des Regimes brachte das Thema Krieg seit Jahren zurück in die Köpfe. Sie machte vor der Manipulation intimster Gefühle, wie der Erinnerung an gestorbene Familienmitglieder, nicht halt. Im Januar zeigten mir Moskauer Freunde auf ihren Handys spontan Fotos ihrer Grossväter, die im 2. Weltkrieg an der Front gestorben waren. Ich verstand, dass für meine Gegenüber die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart bereits verwischt worden war, ihr Bewusstsein wurde auf einen neuen Krieg vorbereitet. Vergangene Woche erhielt ich eine SMS einer regimetreuen Bekannten aus Moskau: Man muss zu seinem Land halten – ob es recht hat oder nicht.

Die Ukraine kämpft um ihr Dasein
In denselben 30 Jahren ist die Ukraine von Null auf entstanden. Die gemächliche sowjetische Provinzstadt Kiew hat sich in die Hauptstadt einer selbstbewussten Nation verwandelt. Die Leere der postkommunistische Apathie wurde durch Patriotismus gefüllt – bis zur Bereitschaft zur Selbstaufopferung. Die Ukrainer verteidigen heute ihre Unabhängigkeit, Freiheit und Selbstbestimmung, und der Kampf findet Akklamation in der Welt.

Doch ich fürchte ich mich. Putins Regime hat die Feedbackschlaufe längst gekappt und trifft Entscheide aus dem physischen und geistigen Bunker. Die ukrainische Seite lehnt bis heute jedwelche Eingeständnisse ab. Tausende sind bereits gestorben. War der Westen leichtsinnig, in dem er den Ukrainern Hoffnungen machte, die er wegen der Gefahr eines Atomschlags und der Abhängigkeit vom russischen Gas nicht erfüllen kann? Wenn keine Kompromissbereitschaft gefunden wird, ist die Gefahr Hunderttausender Toter real.

*Der in Rheinfelden wohnhafte Michael Derrer ist Unternehmer und Hochschuldozent und hat sich seit 30 Jahren auf Russland, die Ukraine und Osteuropa spezialisiert. Er spricht Russisch, Ukrainisch und weitere osteuropäische Sprachen. Aktuell beendet er die Redaktion seines Buches «Korruption, Erpressung und Macht in Russland und der Ukraine», das seine wirtschaftssoziologische Forschung enthält.


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