Dem Wahnsinn entkommen

  17.03.2022 Möhlin

Dem Wahnsinn entkommen

Ukrainische Flüchtlinge finden bei Fricktaler Familien eine Bleibe

Raus aus dem Krieg: Eine Mutter mit ihren Töchtern lebt jetzt bei der Familie von Simon und Karin Mahrer in Möhlin. Ein Besuch.

Ronny Wittenwiler

«Es war sehr emotional.» Das sagt Simon Mahrer über den Moment der ersten Begegnung. Man hat nur eine leise Ahnung davon. Wie sich die Türen des Cars öffnen, wie Frauen mit ihren Kindern aussteigen. Endlich. Angekommen im sicheren Hafen und doch weit entfernt von der eigenen Glückseligkeit. Hinter ihnen liegen zwanzig Stunden, zweitausend Kilometer und ein Krieg, der jetzt ein bisschen weiter entfernt ist und ihnen doch so nahe geht.

Simon und Karin Mahrer nehmen auf einem Parkplatz in Augst vier Ukrainerinnen in Empfang und später bei sich zuhause auf: Jrina (37) mit ihren Töchtern Anastasiia (17), Angelina (12) und Kira, gerade einmal vier Monate alt, quasi in den Wahnsinn hineingeboren. Stunden zuvor hatte Jrina mit ihren Kindern den «rettenden» Bus bestiegen. Weg von der Ukraine, raus aus Kiew, raus aus diesem Horror. Nun sind sie bei Familie Mahrer im Haus angekommen.

Als die NFZ diese Woche zu Besuch ist, scheint die Sonne, es ist ein prächtiger Montagnachmittag, ganz und gar unpassend zu diesem Drama, das Menschen dazu bringt, gerade noch mit dem Nötigsten die eigene Heimat zu verlassen; mit den eigenen Kleidern am Leib, mit einem kleinen Rucksack vielleicht oder einem Plastiksack und – im Fall von Jrina zum Beispiel – mit dem Baby in den Armen. Für Simon und Karin Mahrer stand ausser Frage, als die russische Armee mit Panzern in die Ukraine einmarschierte: Sie werden eine Familie bei sich zuhause aufnehmen. Kurz nachdem sie beim Hilfswerk «Terra Nea» vorstellig geworden waren, ging alles sehr schnell. Und dann kam er, auf diesem Parkplatz in Augst, dieser Car, und eben dieser Moment der ersten Begegnung. «Wir sahen überall erschöpfte Menschen. Es war sehr emotional.» Insgesamt sind es an diesem Tag in Augst sechs Familien aus der Nordwestschweiz, die Flüchtende in Empfang und dann bei sich zuhause aufnehmen

Die eine Botschaft
Simon und Karin Mahrer, wie so vielen anderen auch, geht dieser Krieg nahe. Ihre drei eigenen Kinder stammen ursprünglich aus der Ukraine. Als es damals um Modalitäten der Adoption gegangen war, lebten sie mehrere Monate im Land, in der Hauptstadt Kiew, ebenso auf der Krim; ja, auf jeden Fall, sagt Simon Mahrer, sie hätten die Ukraine kennen und lieben gelernt. Und doch geht es in dieser Geschichte nicht um die Familie Mahrer, das wollen beide unterstrichen haben, vielmehr gehe es um eine generelle Botschaft. «Ich glaube, jeder einzelne kann mit seiner Solidarität etwas beitragen», sagt Simon Mahrer. «Wenn jemand ein T-Shirt spendet, ist das genauso eine Riesensache.»

Gemeindeammann Markus Fäs ist an diesem Montag ebenfalls zugegen bei Familie Mahrer. Möhlin bewegt, lautet das geflügelte Wort, und der Krieg bewegt viele Möhliner. «Ich bin fasziniert von dieser Welle der Solidarität», sagt Fäs. «Ich stelle mit Freude fest, dass es nur wenig braucht, um andere auf eine Idee zu bringen. Das zeigt dieses Beispiel hier.» Mehr als ein halbes Dutzend Möhliner Familien hat mittlerweile ukrainische Familien bei sich aufgenommen.

Am Tag danach ists vorbei mit dem Sonnenschein, der Morgen über Möhlin erwacht in einem diffusen Licht, Saharastaub liegt in der Luft. Doch für Jrina geschieht in diesen Stunden Besonderes: Eine Freundin aus Kiew erreicht Tage nach ihr ebenfalls den sicheren Hafen. Auch sie kommt mit ihren Kindern bei einer Familie in Möhlin unter. Die beiden Freundinnen teilen dasselbe Schicksal, waren einst bereits aus den umkämpften Gebieten im Osten der Ukraine geflohen, nach Kiew – nun hat sie der Wahnsinn der letzten knapp drei Wochen, dieser Krieg, erneut in die Flucht getrieben. Jrina lässt via Dolmetscherin ihre ausgesprochene Erleichterung ins Deutsche übersetzen: Es sei ihr wichtig, ihre Freundin nun auch hier in Sicherheit zu wissen, eine vertraute Person ganz in der Nähe zu haben – jetzt, da alles andere so plötzlich weggebrochen sei.

Erleichterung und Leid liegen in diesen Tagen so nah beieinander, von Freude zu sprechen – es wäre in höchstem Masse vermessen. Darum lässt sich in dieser Geschichte auch kein Happy End herbeischreiben. Jrina, ihr Baby in den Armen, ihre beiden Teenager neben sich, die Worte fallen schwer: «Ich glaube nicht, dass es bald vorbei sein wird.»

Doch bleiben an diesem Frühlingstag mit Blick über Möhlin auch jene Worte von Simon Mahrer haften: «Wir haben immer gesagt – egal ob eine Woche, einen Monat oder ein Jahr: Unsere Tür bleibt offen.»


Möhlin hilft

Die Gemeinde hat auf die dramatischen Ereignisse in der Ukraine reagiert und auf ihrer Webseite ein Dossier («Möhlin hilft») mit Informationen und Vernetzungsmöglichkeiten zusammengetragen. «Wir bieten ausserdem eine Plattform an, wo man sich als Gastfamilie oder für Sachspenden eintragen kann.» Weiter teilt die Gemeinde mit: «Aktuell prüft der Kanton Aargau zusammen mit den Gemeinden Möglichkeiten zur Unterbringung von kriegsbetroffenen Personen aus der Ukraine in kommunalen Unterkünften. Auch die Gemeinde Möhlin prüft derzeit Möglichkeiten, Flüchtlinge in Gemeindeunterkünften unterzubringen.» Alle Informationen im Internet. (rw)

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