«Das rote Kreuz wirkt als eine Art Schutzschild»
06.02.2022 PersönlichNadine Küng ist «Protection Delegate» für das IKRK in Konfliktregionen der Welt
Für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) ist die Maispracherin Nadine Küng in Konfliktregionen der Welt im Einsatz. Als «Protection Delegate» verbrachte sie die vergangenen eineinhalb Jahre in Myanmar. Ein Interview über das Leben im Einsatz zugunsten der humanitären Hilfe, geprägt von schwerwiegenden Schicksalen fernab vom eigenen Zuhause.
Severin Furter – Volksstimme
Frau Küng, in den vergangenen 15 Monaten haben Sie für das IKRK in Myanmar gelebt. Wie ist es dazu gekommen?
Nadine Küng: Als Delegierte beim IKRK wechselt man seinen Arbeitsund entsprechend auch seinen Lebensort rund alle ein bis zwei Jahre, zuvor war ich in der Republik Tschad in Zentralafrika tätig. An den Einsatzorten gibt es normalerweise Konf likte unterschiedlicher Art, so auch hier in Myanmar in Südostasien. Wir vom IKRK versuchen, während unseres Einsatzes den betroffenen Menschen zu helfen, das ist meine Aufgabe.
Wie muss man sich Ihren beruflichen Alltag vorstellen?
Ich bin als «Protection Delegate», also auf Deutsch übersetzt etwa Schutzbeauftragte, hier im Einsatz. Überall dort, wo humanitäres Völkerrecht verletzt wird, helfen wir. In Myanmar ist die Bevölkerung geprägt von lang anhaltenden, bewaffneten Konflikten. Dabei versuchen wir, in drei Aufgabengebieten zu helfen. In einem ersten Teil geht es um die Zusammenführung von Familien. Sprich, wenn jemand verschwindet, beispielsweise aufgrund einer Verhaftung oder Flucht, helfen wir Angehörigen, diese Personen wieder zu finden. Dann geht es um die Unterstützung der Bevölkerung vor Ort, die direkt von Konflikten betroffen ist, beispielsweise im Bereich der medizinischen Versorgung von Konf liktopfern. Dies machen wir gemeinsam mit Arbeitskollegen, die in diesem Themenbereich tätig sind. Und der dritte und nicht unwesentliche Teil meiner Arbeit dreht sich um Häftlinge in den Gefängnissen. Wir reden mit den Inhaftierten und Behörden, um die Bedingungen in den Gefängnissen zu verbessern. Während der Corona-Pandemie versorgten wir die Häftlinge mit Masken, aber wir halfen auch, damit sie Nachrichten von Angehörigen empfangen und senden konnten. Und wenn Häftlinge wieder freikommen, unterstützen wir sie bei der Rückkehr in ihre Dörfer. Währenddessen arbeiten andere Kollegen etwa an der Trink- oder Lebensmittelversorgung der Bevölkerung.
Bewaffnete Konflikte, eine dürftige medizinische Versorgung und viele einzelne Schicksale. Das Leid ist gross. Wie gehen Sie damit um?
Es ist nicht einfach, aber als ausländische Delegierte geniessen wir ein grosses Privileg. Die Rahmenbedingungen, beispielsweise in Sachen Beherbergungssituation, sind für uns sicherer als für Grossteile der
lokalen Bevölkerung. Zudem sind wir nie direkt in einem Gefecht unterwegs, sonst könnten wir nicht arbeiten. Entsprechend ist es für uns psychologisch einfacher, mit der Situation umzugehen. Am Ende machen wir hier einen Job, wie andere auch einem Beruf nachgehen. Dabei versuchen wir unser Bestes.
Wie muss man sich Ihr Leben vor Ort vorstellen?
Myanmar ist ein sehr grosses Land. Hier, wo ich wohne, befinden wir uns im Grenzgebiet zu Bangladesch. Wir sind vom Zentrum des Landes sehr weit entfernt. Um von der Hauptstadt hierhin zu gelangen, musste ich zuerst mit dem Flugzeug, dann mit dem Auto und schliesslich auch noch per Boot reisen. Das Leben hier ist komplexer als in der Schweiz: Wenn ich das Haus verlassen will, muss ich immer verschiedene Dokumente und Bewilligungen dabei haben, um mich auszuweisen. Man repräsentiert ständig die Organisation und steht gewissermassen immer unter Beobachtung. Ein Alltagsleben, wie wir es von der Schweiz gewohnt sind, fehlt manchmal.
Fühlen Sie sich sicher?
Ja, ich fühle mich sicher. Das rote Kreuz ist ein Symbol, das international und gerade in solchen Krisengebieten sehr wichtig ist. Es ist eine Art Schutzschild, das man als Mitarbeiterin des IKRK mit sich trägt. Wir werden geschätzt und können unsere Arbeit entsprechend sicher gestalten. Wichtig ist, dass man die Geschichte seines Einsatzortes kennt, die Konflikte versteht und so mit der Bevölkerung in Dialog treten kann. Dabei helfen uns auch die zahlreichen lokalen Mitarbeitenden vor Ort. Und man muss wissen, dass die Konflikte hier an meinem Arbeitsort nicht in der Stadt, sondern beispielsweise in den Berggebieten ausgetragen werden.
Das rote Kreuz auf weissem Grund ist Ihre einzige Schutzvorkehrung?
Ja, sozusagen schon. Sicherheitsleute oder das Tragen einer Waffe sind für uns tabu. Wir haben unseren Mitarbeiter-Badge und zusätzlich zum Reisepass einen IKRK-«Pass». Zudem bewegen wir uns in einem System von Sicherheitskontakten. Man kennt uns in den Dörfern.
Sehnen Sie sich manchmal auch nach einem «normalen» Job?
(Lacht) Eigentlich mache ich einen ganz normalen Job. Tatsächlich sitze ich viel im Büro und erledige Abklärungen für die einzelnen Hilfsbereiche, die dann von lokalen Mitarbeitenden ausgeführt werden. Also so gesehen läuft es nicht anders als in der Schweiz, ausser dass der Strom ausfällt und das Internet öfters mal zusammenbricht.
Wie verbringen Sie Ihre Freizeit?
Da mein Aufenthalt hier genau in die Coronazeit fiel, ist Freizeit eine spezielle Angelegenheit. Manchmal hatten wir hier eine Ausgangssperre bereits ab ein Uhr mittags. Selbst Spaziergänge waren dann kaum mehr möglich. Ich habe die Zeit genutzt, um Chinesisch zu lernen. Zudem leben wir ausländischen Mitarbeitenden des IKRK hier gemeinsam in einem Haus, sodass wir wie in einer WG abends gemeinsam kochen und zusammensitzen können. Je nach Situation vor Ort ist die Freizeit aber sowieso sehr beschränkt. Ist irgendwo ein Konflikt aktiv, spielt es keine Rolle, ob Abend oder Wochenende ist. Wir versuchen dann bestmöglich zu agieren und zu helfen.
Nun endet Ihr Einsatz in Myanmar. Sie fliegen zurück in die Schweiz. Was folgt nun?
Ich war aufgrund der Pandemie elf Monate ununterbrochen in Myanmar – ich war im ganzen Leben noch nie so lange am Stück weg von zu Hause. Nun werde ich aber rund zwei Monate Ferien machen und die Zeit mit der Familie geniessen. Das ist enorm wichtig, nicht zuletzt für die mentale Gesundheit. Es ist wichtig, hin und wieder längere Zeit zu Hause zu sein, um den Kontakt und Bezug nicht zu verlieren.
Die nächste Mission an einem neuen Einsatzort wird jedoch folgen. Wissen Sie schon, wohin es geht?
Nein, das weiss ich noch nicht. Jeder Ort hat eine andere Geschichte, überall warten andere Aufgaben. Das macht es spannend.
Gibt es einen Ort, der Sie besonders interessieren würde?
In Nordkorea würde ich gerne einmal arbeiten. Man hört so viel über dieses Land, dennoch wissen wir hierzulande sehr wenig darüber. Die Arbeit vor Ort wird anders sein, als wir dies uns in der Schweiz respektive ausserhalb von Nordkorea vorstellen. Das Leben in solchen Konf liktgebieten kann man nur nachvollziehen, wenn man selber dort war. Dinge, die in den Medien nicht erklärbar sind, werden beim Leben vor Ort verständlich.
Haben Sie beim IKRK Ihren Job fürs Leben gefunden?
Ich habe lange von diesem Job geträumt. Nicht alles ist so, wie ich mir das vielleicht vorgestellt habe. Ich denke, das ist in jedem Beruf so. Bis jetzt finde ich es extrem spannend und ich freue mich auf meine künftigen Aufgaben. Klar habe ich mir auch schon überlegt, was mich in der Schweiz reizen würde. Aber, wenn man lange weg ist, ist es wohl umso schwieriger, fix zurückzukehren.
Das IKRK kurz erklärt
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) ist eine neutrale humanitäre Organisation, welche weltweit in über 100 Ländern tätig ist. Das IKRK schützt und unterstützt Menschen, die von bewaffneten Konflikten und anderen Gewaltsituationen betroffen sind. Das IKRK setzt sich ausserdem für die Einhaltung des humanitären Völkerrechts ein, das heisst den Bestimmungen, die den Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten darlegen. Das IKRK ist Teil der internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung.
Zur Person
Nadine Küng (30) ist aufgewachsen in Maisprach, wo sie bei Aufenthalten in der Schweiz auch heute noch lebt. Sie hat internationale Beziehungen in Genf und Hongkong studiert und ein Masterstudium in humanitärer Hilfe an der Universität Uppsala (Schweden) abgeschlossen. Heute ist Küng als «Protection Delegate»für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) tätig. (sf)