Von Beruf Übertitelfahrerin

  16.01.2022 Persönlich

Lea Vaterlaus klickt während Stunden durch ein Libretto

Die junge Rheinfelderin Lea Vaterlaus hat ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht. Sie ist Mitarbeiterin am Theater Basel und hat dort ein Amt inne, welches sie im Verborgenen ausübt, und das doch vom Publikum dankbar entgegengenommen wird.

Birgit Schlegel

Ihr Arbeitsplatz? Ein abgedunkelter, schalldichter Raum, mehrere kleine Bildschirme auf einem Tisch, eine Leselampe, ein kleiner Lautsprecher. Und dies auf einer Fläche von höchstens 1,5 m2. Hier sitzt die 22-jährige Lea Vaterlaus mehrmals in der Woche und betreut die Opernvorstellungen des Theater Basel in einem ganz speziellen Kontext: sie ist Übertitelfahrerin. Abend für Abend sorgt sie dafür, dass das Publikum – ähnlich dem Kino – den gesungenen oder gesprochenen Text in Originalsprache sowie in einer deutschen Übersetzung oberhalb des Bühnenrands projiziert mitverfolgen kann. Durch das grosse Panoramafenster bietet sich ihr ein einmaliger Blick auf die grosse Bühne, den Orchestergraben und das Publikum, denn das Kabäuschen befindet sich zuoberst auf dem Balkon auf rund 15 Metern Höhe. Eine Ausbildung für diesen Beruf gibt es nicht. Ein Gefühl für Sprache, ein starkes Musikverständnis und eine hohe Kompetenz in Partitur-Lesen sind Grundvoraussetzungen. Häufig übernehmen deshalb Personen mit langjähriger Arbeitserfahrung im Theaterbetrieb diese Aufgabe, etwa Dramaturgen oder Inspizienten. Doch wie kommt eine derart junge Person wie Lea bereits zu so einem wichtigen Job?

«Seid uns zum zweiten Mal willkommen, ihr Männer, in Sarastros Reich.»
Schon früh knüpfte Lea erste Kontakte zum Theater, haben ihre Grosseltern sie und ihren Bruder doch jeweils zu Weihnachten in eine ausgewählte Vorstellung eingeladen. Mozarts Zauberf löte in der Spielzeit 2015/16 war dann ein Schlüsselerlebnis. «Da hat es mich voll gepackt!» Mehrmals hat sie sich diese Produktion angeschaut, war fasziniert von diesem Gesamtkunstwerk. Die Oper hat sie deshalb auch ins Zentrum ihrer abschliessenden Maturarbeit am Gymnasium Muttenz gestellt. Strawinskys «Rake’s Progress» durfte sie thematisch von der Entstehung bis zur Dernière begleiten. Nach einem anschliessenden ersten Praktikum in der Dramaturgie war für Lea Vaterlaus klar: «Ich will unbedingt und auf schnellstem Weg in die Oper.» Und da mit der neuen Intendanz für die Saison 2020/21 zusätzliche Personen für die Übertitelung gesucht wurden, hat sie diese Chance sofort gepackt.

Etwa vier bis sechs Wochen vor der Premiere beginnt sie jeweils mit dem Erstellen der Übertitel. Nach einer ersten Besprechung mit der Dramaturgie wird das Libretto – also der jeweilige Text – mehrsprachig in ein spezielles Textprogramm ihres Arbeitscomputers eingefügt, welches die einzelnen kleinen Satzfragmente in Texttafeln ähnlich einer PowerPoint-Präsentation einteilt und nummeriert. Diese Unterteilung markiert die Übertitelfahrerin anschliessend von Hand in einem Klavierauszug. Bis zu den Endproben muss diese Fleissarbeit erledigt sein, denn dann beginnt das Einarbeiten in den Handlungsverlauf. Lea Vaterlaus begleitet in dieser Schlussphase intensiv die Probenarbeit auf der grossen Bühne und fügt Textkorrekturen und Tempoanpassungen in das Programm ein. Der zeitliche Aufwand dafür ist riesig, denn es verlangt in den Tagen vor der Premiere beinahe rund um die Uhr Probenpräsenz. «An der Haupt- und Generalprobe mache ich mir jeweils eine Tonaufnahme, damit ich zu Hause mit dem Klavierauszug das Umschalten der Texttafeln bis zur Premiere üben kann.» Doch wie geschieht dies eigentlich während der Vorstellung? Ganz einfach mit der Maustaste. «Die Zauberflöte hat zirka 950 einzelne Texteinblendungen. Auf meine Arbeit übersetzt heisst dies: Ich verfolge das Geschehen im Klavierauszug und klicke pro Vorstellung fast 1000 mal die Maustaste.» Die Arbeit der Übertitelfahrerin scheint auf den ersten Blick wenig Künstlerisches zu beinhalten. Dem widerspricht Lea jedoch vehement. Wie eine Orchestermusikerin versuche sie jeweils, den Gesang zu begleiten, um den Text exakt einzublenden. «Eine Fermate eines Sängers oder den Höhepunkt der Koloratur einer Sopranistin aus der Distanz richtig abzufangen, ist ein sehr beglückendes Gefühl.» Immer wieder erhält sie überraschte Reaktionen von Besucherinnen und Besuchern, die davon ausgehen, dass ihre Arbeit von einem Computer und nicht von Menschenhand verrichtet wird. Ist es hilfreich, dass sie in ihrer Freizeit Geige und Klavier spielt? «Oh ja, sehr», meint sie. Sie atme nicht nur mit den Sängerinnen und Sängern mit. Nein, ganze Passagen singe sie manchmal in ihrer Kabine laut mit, «froh darum, dass mir dabei niemand zuhören kann», meint sie lachend. «Also die Zauberflöte kenne ich inzwischen auswendig. Sie verfolgt mich manchmal den ganzen Tag.»

Kein Job für eine Lerche
Anstrengend ist dieser Beruf, verlangt er doch höchste Konzentration über mehrere Stunden. «Habe ich am Abend eine Vorstellung, dann schaue ich, dass ich am selben Tag nicht zu viel Programm habe.» Dies ist nicht einfach. Denn Lea Vaterlaus steckt momentan noch mitten im Studium. Musikwissenschaft hat sie gewählt und Englisch, ihre zweite Leidenschaft. Zudem ist sie seit März 2021 für die Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit beim Sinfonieorchester Basel angestellt. Doch wie bewältigt sie ein derartiges Pensum? Im Wald spazieren, eigene Kleider nähen oder zu Hause Klavier üben, füllen ihre Batterien wieder auf. Und immer wieder Musik hören. Dabei muss es keineswegs nur Klassik sein. Die Konzeptalben der frühen Genesis- und Pink Floyd-Ära sind für sie Meisterwerke und Alicia Keys’ Stimme vergöttert sie. An einem freien Morgen richtig ausschlafen gehört aber zur Lea Vaterlaus’ wichtigster Regeneration. Denn habe sie am Morgen bereits ein paar Stunden im Orchesterbüro verbracht, spüre sie am Abend eine Müdigkeit vor Vorstellungsbeginn. Es sind lange Tage, die sie zu bewältigen hat. Spätestens eine Stunde vor Vorstellungsbeginn beginnt sie mit dem Einrichten ihres Arbeitsplatzes. Vor Mitternacht ist sie selten zu Hause. «Ich bin zum Glück ein totaler Nachtmensch. Meine Konzentration ist dann am grössten», meint Lea Vaterlaus über sich. Nach einer Vorstellung habe sie «so viel Energie und ein derart befriedigendes und erfülltes Gefühl. Ich könnte noch alles machen.»

Und wo bleibt ihre Anerkennung? Während nach einer erfolgreichen Vorstellung die auftretenden Künstlerinnen und Künstler, Orchestermitglieder oder Personen aus der Produktionsleitung vom Publikum mit frenetischem Applaus verdankt werden, bleibt sie und ihre geleistete Arbeit im Verborgenen. «Ich brauche den Applaus nicht. Grosse Wertschätzung erhalte ich jeweils von der Dramaturgie. Sie wissen genau, was ich jeweils leiste. Und nach der Vorstellung durch die beglückte Besuchermenge im Foyer zu spazieren, ihre Gespräche anzuhören und ihre freudigen Gesichter zu sehen im Wissen, dass ich mit meiner Arbeit einen Teil dazu beigetragen habe, ist für mich genug Anerkennung.» Im Kulturbetrieb werde einem nichts geschenkt. Das meiste müsse man sich erst erarbeiten, weiss Lea Vaterlaus aus Erfahrung. «Ich sehe meine Anstellung als Lohn für die zahlreichen Praktika und Hospitanzen, die ich bereits gemacht habe.»

Einen Herzenswunsch hat sie jedoch noch: eine Anstellung im Royal Opera House in London. «Dies ist der schönste Ort für mich!» Mit ihren noch jungen Jahren hat Lea Vaterlaus bereits viel erreicht. Vielleicht geht auch dieser Traum dank ihrer Willenskraft und ihrem Engagement einmal in Erfüllung.


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