Der Pfeil ist immer schneller als das Auge
13.11.2021 FricktalAus der ganzen Deutschschweiz treffen sich Bogenschützen im Fricktal
Bogenschütze Martin Kroehl hat vor fünf Jahren in Oeschgen und Gipf-Oberfrick ein Zentrum für Traditionelles Bogenschiessen aufgebaut. Ein vernachlässigter Sport, wie er sagt, der dennoch viele Anhänger aus Nah und Fern findet.
Boris Burkhardt
Andrea Weibel und Pascal Fasel nehmen fast zeitgleich den Pfeil aus dem Köcher, nocken ihn ein, spannen die Sehne mit der rechten Hand bis zur Wange, zielen und lassen los. Man kann es als Zuschauer so oft probieren, wie man will: Der Pfeil ist immer schneller als das menschliche Auge; und noch ehe man den Kopf in die andere Richtung gedreht hat, steckt er schon in einer der weiss-schwarzen Zielscheiben am anderen Ende der Halle, etwa 16 Meter entfernt. Wer jetzt nicht an Robin Hood und seine berühmten Bogenturniere denken muss, hat in seiner Kindheit etwas versäumt.
Weibel und Fasel sind Mitglied im Bogenzentrum Fricktal. In der alten Halle des Zirkus Nock in Oeschgen schiessen sie freitagabends, solange sie Lust haben; heute hat sich Stefano Selva zu ihnen gesellt. Jeder Bogen wird in Grösse und Stärke individuell dem Schützen angepasst; schliesslich darf die Sehne weder zu lasch sein noch zu schwer zu spannen. Ein guter Bogen inklusive Pfeile, Köcher, Handschuhe und Unterarmschutz kostet in der Schweiz zwischen 700 und 1000 Franken. Dabei hat das Equipment aber auch 20 Jahre Garantie.
Robin Hood – oder Indianer oder Wikinger? Die Wände der vertäfelten Halle sind geschmückt mit entsprechenden Bildern und Utensilien, federtragenden Häuptlingen, Tierfellen, Traumfängern oder direkt bändergeschmückten Holzbogen mit überkreuzten Pfeilen. Martin Kroehl will, dass sich jeder hier wohlfühlt. «Das Ambiente ist wichtig», sagt der ausgebildete Trainer für den intuitiven Bogensport und Besitzer des Bogenzentrums Fricktal. Es gebe viele Assoziationen und Inspirationen, die der Mensch mit Pfeil und Bogen habe, einer Jagd- und Sportwaffe, die von der Altsteinzeit bis ins 17. Jahrhundert ein selbstverständlicher Teil der menschlichen Kultur gewesen sei.
Kroehl sieht vom Podest mit der kleinen Theke und den Sofas hinunter auf das Schussfeld. Hier oben halten sich noch viele Mitglieder auf, Männer, Frauen und Kinder, die bereits geschossen haben, oder noch werden, und die Geselligkeit geniessen. Von Appenzell und Bern, von Zürich und aus der deutschen Nachbarschaft fahren die Bogenschützen jeden Freitag nach Oeschgen. Kroehl hat Glück gehabt, weil ihm die grosse Halle und das Gelände des ehemaligen Zirkus Nock in Oeschgen sowie die Tongrube in Gipf-Oberfrick eine Infrastruktur für den Bogensport bieten, die sein Bogenzentrum Fricktal nach eigener Aussage in der Deutschschweiz einmalig macht.
Kroehl (53) stammt aus Köln und kam vor 25 Jahren des Berufes wegen in die Nordwestschweiz und wohnt nun in Wittnau. Zum Bogenschiessen kam er laut eigener Aussage durch seinen damals 14 Jahre alten Sohn: «Er kam eines Tages mit einem Bogen aus einem Spielzeugladen heim und wollte, dass ich mit ihm im Garten schiesse. Ich war sehr reserviert.» Doch es dauerte nicht lange, bis Kroehl vom Bogensport so fasziniert war, dass er sich selbst zum Trainer ausbilden liess. Vor fünf Jahren gründete er im Landi-Gebäude in Gipf-Oberfrick seine Bogenschule mit einem Grundund einem Aufbaukurs. Das Traditionelle Bogenschiessen, das ohne Visiere auskommt, werde in der Schweiz noch immer stiefmütterlich behandelt, meint Kroehl.
Die ersten Kurse waren jedoch ein Erfolg; laut Kroehl zog das Interesse bis Corona immer mehr an. Mit einem dritten Kurs erlangen die Schüler das Parcourszertifikat, mit dem sie sich alleine auf einem 3D-Parcours bewegen dürfen. Als 3D-Parcours bezeichnen die Bogenschützen ein Schiesstraining, bei dem meist lebensgrosse Tiere aus Styropor als Ziele aufgestellt sind. In der ganzjährig nutzbaren Tongrube in Gipf-Oberfrick sind es deren 28; in der Halle in Oeschgen werden sie für Turniere aufgestellt. Die Jagd auf echte Tiere mit Pfeil und Bogen ist in der Schweiz und in Deutschland derzeit verboten. Das aargauische Waldgesetz äussere sich nicht explizit zum Bogenschiessen im Wald, erzählt Kroehl: Nach der Interpretation des Kantons sei es verboten; der Jurapark und einige Gemeinden im Fricktal hätten aber das touristische Potential dieses nachhaltigen Sports erkannt.
Seit zwei Monaten steht Kroehl als Partnerin in der Geschäftsführung Leyla Martinez (29) aus Erlinsbach zur Seite. Sie kam erstmals mit 18 Jahren im Lager in Kontakt mit dem Sport und erinnerte sich daran, als sie vor einem Jahr von Kroehls Schule hörte. Nach dem Schnupperkurs habe sie gleich das erste Clubturnier diesen Mai gewonnen, sagt Kroehl stolz.
Bogenschiessen können bei Kroehl Kinder ab zehn Jahren: Der Bogenlehrer ist überzeugt, dass der Sport nicht nur die motorischen Fähigkeiten junger Menschen verbessere, sondern die Verantwortung, mit einer Waffe umzugehen, auch schulisch benachteiligten und verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen helfe, das Selbstvertrauen zu festigen. Ihn überrascht es deshalb nicht, dass viele Väter und Söhne oder ganze Familien Mitglieder seien. Zusätzlich zu den Kursen gründete Kroehl einen Club, ähnlich der Mitgliedschaft in einem Fitnessstudio: Freitagsabends und bald auch am Dienstag können die Mitglieder unverbindlich kommen und in der Halle schiessen.
Ein weiteres Standbein des Bogenzentrums Fricktal sind die Events für Firmen und private Gruppen: Statt zum Minigolf oder zum Go-Kart-Fahren geht der Firmenausflug zum Bogenschiessen. Auch die Regionalpolizei Oberes Fricktal und die Kantonspolizei seien schon bei ihm gewesen, berichtet Kroehl. Waren die waffentragenden Gesetzeshüter auch mit Pfeil und Bogen treffsicher? Kroehl lacht: «Es ging eine halbe Stunde, bis sie den Dreh raushatten, weil sie gewöhnt sind, bei der Pistole ein Auge zu schliessen, während man beim intuitiven Bogenschiessen beide Augen offenhält. Aber danach waren sie gute Schützen.»