Besondere Lebensaufgabe und ein ständiger Kampf

  20.06.2021 Frick

Sprechen, gehen und spielen: Wie andere Kinder lernten das auch die Schwestern Muriel und Helena Riedwyl. Heute, 26- und 28-jährig, können sie es aufgrund einer seltenen, progressiv verlaufenden Krankheit nicht mehr. Mutter Christina Riedwyl pflegt und betreut ihre Töchter daheim in Frick. Eine Herkulesaufgabe.

Susanne Hörth

Das Lachen im Gesicht von Helena Riedwyl weicht einem Weinen. Grund ist die Kamera in den Händen der Journalistin. Christina Riedwyl beruhigt ihre auf dem Sofa liegende Tochter. Nein, es würden keine Fotos gemacht, zu denen sie, Helena, nicht ihr Einverständnis geben würde. Mit «Wollen wir zu Muriel in den Garten?» und «Soll Daniel dir in den Rollstuhl helfen» kehrt Helenas Strahlen zurück. Ja, das möchte sie, gibt sie mit dem Drücken ihrer Hand gegen jene der Mutter zu verstehen. Sprechen kann Helena nicht; nicht mehr. Mit fortschreitender Krankheit ging diese Art der Kommunikation verloren, ebenso die Bewegungsfähigkeit.

Als Muriel und zwei Jahre später ihre Schwester Helena geboren wurden, gingen die Eltern noch von zwei gesunden Kindern aus. «Wir dachten zuerst, sie liessen sich einfach etwas mehr Zeit in ihrer Entwicklung.» Im Alter von etwa zwei Jahren diagnostizierten die Ärzte bei Muriel eine cerebrale Bewegungsstörung. Ebenso bei Helena. Dass es noch weit mehr ist, wurde erst im Laufe der Jahre deutlich. Konnten die Kinder anfangs noch sprechen, laufen, spielen oder auch sich selbst anziehen, wurden diese Fähigkeiten zusehends weniger. «Wir haben nicht gewusst, dass es sich so entwickelt. Noch 2008 hätte ich es nie für möglich gehalten, dass sie einen Rollstuhl brauchen», sagt Christina Riedwyl leise.

Spagat zwischen Pflege und Administration
In der Zwischenzeit hat sie zusammen mit Daniel Beuggert Helena hochgehoben und sie behutsam in den überbreiten Rollstuhl gesetzt. Ein Rollstuhl mit vielen Spezialanpassungen. So auch jener in dem Muriel draussen im Garten sitzt.

Daniel Beuggert ist seit acht Jahren administrativer Beistand der Schwestern. «Eine Beistandschaft wie für Muriel und Helena erlebt man sehr selten. Es berührt sehr», meint der Rheinfelder Berufsbeistand. Er ist voller Respekt für die Mutter. Die ausgebildete Kinaesthetics-Trainerin ist als medizinische Beiständin ihrer Töchter eingesetzt. Indem sich Daniel Beuggert dem Riesenberg an administrativen Aufgaben annimmt, kann sich Christina Riedwyl mehr der Rundum-Betreuung ihrer Töchter zuhause in Frick widmen. Der grosse organisatorische Aufwand bleibt aber nach wie vor an ihr hängen.

Froh und dankbar ist Christina Riedwyl über ihren entgegenkommenden Vermieter, der nichts gegen behindertengerechte Umbauten einzuwenden hatte. Mit der IV kämpft die Mutter aktuell um die Übernahme der Kosten. Einer von vielen tagtäglichen kräftezehrenden Kämpfen. Dadurch gehen auch immer wieder wertvolle Ressourcen in der Pflegeaufgabe verloren.

Ständige Präsenz
Draussen im Garten setzt Christina Riedwyl ihrer Tochter Muriel eine Sonnenbrille auf und schiebt den schweren Rollstuhl etwas mehr in den Schatten. Immer wieder reagiert die Mutter während des Gespräches mit der NFZ auf – für Aussenstehende kaum oder gar nicht wahrnehmbare – Signale ihrer Mädchen. Sie bettet Helena vom Rollstuhl auf eine bequemere Liege, gibt ihr kurz darauf über die Magensonde etwas zu trinken, zieht Muriel, bevor sie ihr die Arme in eine etwas angenehmere Position gebracht hat, eine Decke über die Beine. Alles geschieht mit behutsamen, sicheren Handgriffen. Für Hektik ist kein Platz. Auch dann nicht, wenn zum ansonsten schon prall gefüllten Alltag die Anwesenheit der Journalistin sowie ein sich an diesem Tag kurzfristig ergebener Arztbesuch von Helena – sie hat heftige Knieschmerzen – mit zusätzlichem Aufbieten des Spezialkrankenwagens hinzukommt.

Blick zurück
Muriel und Helena besuchten bis zu ihrem 20. Lebensjahr die Heilpädagogische Sonderschule (HPS) in Frick. Christina Riedwyl schmunzelt und erinnert ihre Mädchen an so manch schöne Begebenheit während dieser Schulzeit. Nach der HPS wechselten die jungen Frauen in die Stiftung Lebenshilfe nach Reinach. «Ich wollte, dass sie Neues kennenlernen, neue soziale Kontakte knüpfen konnten.» Weil der progressive Krankheitsverlauf die Pflege und Betreuung zusehends intensivierte, war die Institution irgendwann nicht mehr in der Lage, den Bedürfnissen der beiden Frickerinnen gerecht zu werden.

Helena lebt nun bereits seit zweieinhalb Jahren und Muriel seit Januar dieses Jahres wieder zuhause in Frick. Unterstützung erhält Christina Riedwyl von verschiedenen Spitex-Organisationen sowie von Mitarbeitenden der Stiftung Lebenshilfe. Dass diese Hilfe aber auch immer mit einem grossen Zusatzaufwand für die Mutter einhergeht, macht Daniel Beuggert deutlich. Wechselnde oder ausfallende Mitarbeiterinnen verlangen jeweils ein Umorganisieren und eine Neukoordination von Christina Riedwyl. Eine weitere Hürde, so der Beistand, sei die bestehende Leistungserfassungspflicht. Diese sei nicht nur sehr aufwändig, sondern werde von der Krankenkasse bei der verlangten Trennung von Pflege und Betreuung ständig hinterfragt. «Anstatt den Angehörigen die Möglichkeit zu geben, sich selber besser um die Betreuung kümmern zu können, indem sie einen Lohn erhalten, werden Spitex-Leistungen finanziert, die aber ebenfalls Probleme mit der Anerkennung durch die Krankenkassen haben. Und ihrerseits, wenigstens im vorliegenden Fall, mit der Betreuung ebenfalls an ihre Grenzen stossen.»

Alternative ist nur das Spital
Was wäre, wenn die jungen Frauen nicht zuhause von ihrer Mutter betreut würden? «Dann müssten sie ins Spital», erklärt diese. Für ihre Töchter sei es wichtig, dass sich in bekannter Umgebung stets vertraute Menschen um sie kümmern. Es brauche konstante Betreuungspersonen, die zudem mit viel Feingefühl spüren und verstehen, was Helena und Muriel brauchen, was ihnen weh tut oder was sie in diesem einen Moment gerade beschäftigt.

Nachts steht Christina Riedwyl oft auf, um bei einer ihrer Töchter einen Krampf zu lösen oder um ihnen anderweitig zu helfen. Essen oder Trinken ist längst zu einer zeitaufwendigen Aufgabe geworden. So viel «Normalität» wie nur möglich zuzulassen, ist für Christina Riedwyl trotzdem wichtig. Dazu gehört auch, sich zwei Stunden Zeit für das Eingeben einer Mahlzeit zu nehmen. Immer im Bewusstsein, dass es ein heikles Unterfangen ist, denn die Erstickungsgefahr ist ein ständiger Begleiter. Ebenso die chronischen Schmerzen, die mit der Krankheit einhergehen.

Wie schafft Christina Riedwyl diese aufwendige, sehr emotionale Herkulesaufgabe? Statt einer Antwort schaut sie Muriel und Helena voller Liebe an. Dann deutet sie auf Daniel Beuggert. Sie bekomme ja Hilfe. «Man wächst in die Aufgabe hinein. Ich bin einfach die zentrale Stelle, das erste und das letzte Rädli. Ich bin einfach dankbar, dass ich die Kraft dafür habe.» Die Unterstützung durch die Spitex-Organisationen ist wichtig, gleichzeitig aber wie bereits erwähnt, durch den organisatorischen Aufwand nicht nur Entlastung, sondern auch Belastung. Hinzu kommt die fehlende Privatsphäre. Die eigenen Bedürfnisse weit hintenanstellen ist für Christina Riedwyl längst in Fleisch und Blut übergegangen. «Nur wenn ich das tue, bin ich ganz und gar auf meine Mädels sensibilisiert.»

Wenn die drei Riedwyl-Frauen unter sich sind, stemmt die zierliche Mutter die vielen Aufgaben allein. Angefangen von Körper- und Haarpflege, Anziehen, Essen, Medikamentenverabreichung, medizinischer Pflege, Umbetten vom Rollstuhl auf die Liege und umgekehrt und vieles mehr. Das stets mal zwei.

Kurz durchatmen
In die Ferne reisen, um sich etwas zu erholen, liegt für Christina Riedwyl nicht drin. Die Rundumaufgaben wie auch die Finanzen lassen es nicht zu. «Unser Radius geht halt nicht in die Weite, sondern in die Tiefe», meint sie mit verschmitztem Ausdruck. Um sich und ihren Töchtern trotzdem ab und zu eine Auszeit zu gönnen, zieht sie sich auf den Fricker Campingplatz zurück, auf welchem sie monatsweise einen Wohnwagen mietet. Abwechselnd packt sie eine ihrer Töchter in den Rollstuhl und legt den kurzen Weg zum Campingplatz zurück. «Unsere Erholinsel», so Christina Riedwyl. Jeder schöne Augenblick mit ihren Mädchen ist ein besonderes Geschenk.


Wenn das System an die Grenzen stösst

«Es ist enorm, was Angehörige zu Hause für die Pflege leisten», sagt Daniel Beuggert. «Sie können kein Einkommen erzielen und reiben sich für die Betreuung auf.» Dass die pflegerischen und betreuerischen Leistungen zu Hause vom Gesetzgeber zu wenig unterstützt und honoriert werden, bedauert der Beistand sehr. «Sind die Angehörigen nicht mehr bereit oder in der Lage, die Pflege und Betreuung zuhause zu leisten, bliebe wie im Fall von Muriel und Helena Riedwyl nur das Spital, da alle Behinderteninstitutionen mit dem nötigen Betreuungsumfang überfordert wären.» Im Spital würden durch den hohen Pflegeaufwand enorme Kosten entstehen, was sich wiederum auch auf die Kosten der Allgemeinheit auswirkt. Beispielsweise mit steigenden Prämien bei den Krankenkassen. Im Pflegegesetz des Kantons Aargau wird die Finanzierung für Betreuung und Pflege geregelt. Wenig Raum finden dabei die durch Angehörige wahrgenommenen Aufgaben. Das, so hofft Daniel Beuggert, werde sich möglicherweise mit einer Anpassung des Gesetzes per 2023 ändern.

Während Christina Riedwyl darüber eigentlich nicht sprechen mag, verdeutlicht Beistand Daniel Beuggert, ohne näher in die Details zu gehen, dass die Erbringung von finanziellen Leistungen unablässig Abklärungen, Gesuche, Anträge und vieles mehr bei Krankenkassen sowie den vielen weiteren involvierten Stellen verlangt. «Die Betreuungsleistung der Mutter führt dazu, dass sie keiner Erwerbstätigkeit nachgehen kann. Um die finanziellen Leistungen, nebst IV, EL und HE, erhältlich zu machen, ist ein grosser Aufwand nötig. Diese Leistungen decken ausserdem nicht den ganzen Bedarf ab. Finanziell ist es immer Spitz auf Knopf, es gibt keine finanzielle Sicherheit und es ist ein ständiger Kampf.» (sh)


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