Der Jörhans hatte als Einziger ein Auto

  08.04.2021 Oberhof

Eine spezielle Familiengeschichte aus Oberhof

Ein hartes Schicksal, ein eigenes Auto, eine unermüdliche Ehefrau und Mutter und als Familienoberhaupt der «Jörhans». Die Geschichte der Familie Reimann wird in der «Rückblende 2020», der Dorfchronik von Wölflinswil und Oberhof, von Peter Bircher ausführlich beschrieben. Hier erscheint sie in gekürzter Form.

Simone Rufli

Johann Georg Reimann-Herzog lebte von 1905 bis 1973 in Oberhof. Im Dorf nannte man ihn den «Jörhans». Wie er zu diesem weit über Oberhof hinaus bekannten Namen gekommen war, lässt sich heute nicht mehr eruieren. Jörhans war verheiratet mit Hermina geborene Herzog. Das Paar hatte fünf Kinder. Das Schicksal wollte es, dass das älteste Kind, Othmar (1934 –1957) und das Jüngste, Johann Georg genannt Hansi (1943–1976) beide cerebral gelähmt waren. Beide Söhne wurden zeitlebens in der Familie betreut. Anders als heute, wo «Betreuungs- und Pflegeeinrichtungen bestehen, welche für die Kinder hilfreich sind und für die Familie eine grosse Entlastung bedeuten können», war die Familie damals auf sich allein gestellt, wie Peter Bircher betont. Peter Bircher lebt in Wölflinswil und hat dieser besonderen Familiengeschichte einen mehrere Sei-ten umfassenden Beitrag in der Dorfchronik «Rückblende 2020» von Wölflinswil und Oberhof gewidmet. Familie Reimann liess nichts un-versucht, das Leben ihrer beiden kranken Söhne zu verbessern. «Ein Heilungs-Versuch bei einem Spe-zialisten in Deutschland scheiterte daran, dass der Arzttermin nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kurzfristig und auf unbestimmte Zeit hatte verschoben werden müssen», schreibt Peter Bircher.

Die Fahrt nach Lourdes
Die Familie Reimann war religiös stark geprägt. Jörhans war nicht nur der erste Privatwagen-Besitzer von Oberhof, er war auch Förderer für ein Wegkreuz im Rebberg und er chauffierte Pfarreiangehörige mit seiner Limousine an die Wallfahrtsorte und war auch sonst im kirchlichen Leben präsent. Und so wagte er im Hitzesommer 1947 auf holprigen, zum Teil noch immer vom Krieg beschädigten Landstrassen auch die beschwerliche Reise nach Lourdes – in der Hoffnung auf wundersame Heilung seiner Söhne. Jörhans, seine Frau Hermina, Othmar und Hansi wurden auf der Reise von Hedwig Erb-Herzog und Elisabeth Fricker-Frei begleitet.

«Taxifahrer des Dorfes»
Als «Taxifahrer des Dorfes» war er ein Pionier, chauffierte Landfrauen zum Arzt, zur Apotheke und zum Einkauf und Waren vom Dorf zum Verkauf nach Aarau und Frick. Die Transportroute nach Aarau gab es schon lange, auf der alten Benkenstrasse, bevor diese 1977 neu eröffnet wurde. Wer kein eigenes Auto besass, lud die Waren auf ausgediente Kinderwagen und liess die Fuhre von einem Pferd oder Rindvieh zum Joch hinaufziehen. Andere wiederum mussten sich mit einem Tragkorb auf dem Kopf oder einem schweren Rucksack begnügen. Manche Fahrten unternahm der Jörhans zusammen mit Mau rermeister Walter Treier aus Wölf linswil. Der musste in Aarau immer wieder neue Wandoder Boden-platten besorgen. Dank dem Erbe des Vaters, das ihm den Kauf eines «Berna 9 B 5» ermöglichte, wurde Jörhans mit dem ersten Lastwagen im Tal für viele Jahre Transportunternehmer. Ob Erdtransporte beim Kanal für das Kraftwerk Rupperswil-Auenstein oder Milchtransporte an den Bahnhof in Frick und später direkt in die Molkerei nach Basel – er transportierte alles. Längst hat sich die direkte Abholung der Milch auf den Landwirtschaftsbetrieben durchgesetzt. Für die Milchtransporte hatte der Jörhans Gehilfen, die beim Aufund Abladen der schweren Kannen halfen. Kurt Gerber und Walter Treier waren oft dabei. Von der Molkerei brachten sie im Gegenzug oft eine schöne Portion Joghurt mit.

Jörhans’ Sohn Guido war als Aushilfs-Chauffeur oder beim Milchverlad regelmässig mit dabei. Im Alter von elfeinhalb Jahren musste er das Elternhaus verlassen und auf einem Bauernhof im Waadtland arbeiten, wo er auch zur Schule ging. Später verschlug es ihn nach Lugano, wo er als Bäckerei-Ausläufer 50 Franken im Monat verdienen konnte. Zurück in Oberhof half er im Milchverlad mit. Seit vielen Jahren lebt er in Basel, wo er zuerst Baustellenchauffeur war und später ein eigenes Transportunternehmen auf die Beine stellte, bevor er viel später ins Gastgewerbe wechselte.

Unermüdliche Ehefrau und Mutter
Zurück zu Jörhans. Wirklich rentabel war all seine Geschäftstätigkeit nicht. Dass es trotzdem immer reichte, verdankte die Familie seinem Hobby der Jagd, vor allem aber der Ehefrau und Mutter Hermina. Sie kümmerte sich nicht nur rund um die Uhr um die beiden kranken Buben und sorgte dafür, dass sie ihren Möglichkeiten entsprechend am Leben im Dorf teilhaben konnten. Sie bewirtschaftete auch die Pflanzplätze im Moos und im Asp, die Nahrungsquellen der Familie. «Meine Mutter war immer eine Frohnatur. Sie war aktives Mitglied im Kirchenchor und oft sang sie am frühen Morgen zur Haus- und Betreuungsarbeit die schönsten Lieder», erinnert sich Sohn Guido Reimann in der «Rückblende».


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