In der Krise – und danach?

  03.06.2020 Gesundheit, Rheinfelden

Chancen erkennen und Veränderungen einleiten

Die Corona-Pandemie hat uns in eine Krise gestürzt: Zuerst schockierten uns die einschneidenden präventiven Massnahmen gegen die drohende Epidemie und gegen eine Überforderung des Gesundheitswesens, wie Ausgangsu nd A rbeitsei nsch rän ku ngen, Schul-, Geschäfts-, Restaurants- und Kulturbetriebs-Schliessungen. Dabei blieb trotz beeindruckenden Bildern aus Regionen, die sich weniger zu schützen vermochten, vieles unfassbar. Mittlerweile ist die Gesundheitskrise vorerst gebannt, die Infektionsrate liegt tief, und die Prophylaxe konzentriert sich auf Risikopersonen. Doch die wirtschaftlichen Folgen werden als ökonomische Krise deutlich, und die damit verbundenen Ängste und Verunsicherungen vermischen sich mit emotionalen Reaktionen auf die Tatsache der Pandemie überhaupt.

Diese hat uns aus einer nachträglich trügerischen Sicherheit und Selbstverständlichkeit gerissen, und nun treten Empörung, Unsicherheit und Spannung, Anklagen und Vorwürfe in alle Richtungen in den Vordergrund. Angemessene Freude und Stolz über die gelungene Begrenzung der Pandemie durch unseres Gemeinwesen, der Politik, Verwaltung und Solidargemeinschaft, aber über die vielen individuellen Solidarleistungen drohen dabei unterzugehen, und ebenso die zentrale Frage: Was soll möglichst wieder werden wie zuvor, was aber könnte und sollte sich ändern, und wie?

Lassen sich diese Entwicklungen aus dem Wissen über individuelle psychische Krisen besser verstehen? Krisen treten bei Individuen auf bei einschneidenden Lebensveränderungen wie Trennung, Arbeitsverlust oder sozialen Schwierigkeiten, aber auch bei persönlichen inneren Entwicklungen und Konflikten. Sie sind meist begleitet von Verunsicherung, Angst, Überforderung, Pessimismus, Enttäuschung und Trauer sowie von körperlichen Schmerzen und Beschwerden. Menschen gehen mit ihrer Krise individuell und in verschiedenen Phasen unterschiedlich um: verleugnend, hektisch überaktiv, gelähmt, verzagt und anklammernd, bagatellisierend, dramatisierend, vorwurfsvoll, mit Rückzug… Es bewährt sich, Krisen als solche anzunehmen, nicht in Angst und Panik zu verfallen, sondern Ruhe und Zuversicht zu bewahren und an der kurz- und langfristigen Krisen-Bewältigung zu arbeiten, innerlich wie im Leben. Für Betroffene sind dabei Selbstsorge, offene Kommunikation mit Nahestehenden sowie sorgsames überlegtes Handeln wichtig. Nahestehende können durch Präsenz, akzeptierendes Verständnis, Entlastung, Ermutigung und sachorientierte Unterstützung dazu beitragen. Fachleute helfen in schwereren Krisen, Stabilität und Zuversicht wieder zu erlangen, psychische und körperliche Krankheiten ambulant, tagesklinisch oder stationär zu behandeln, Konf likte und Schwierigkeiten anzugehen sowie nötige Entwicklungen zu fördern. So können Betroffene ihre anfängliche Erschütterung und Angst abbauen und Hoffnung finden. Und sie können die Krise mehr und mehr nicht nur als Zumutung und Irritation sehen, sondern vermögen sich immer mehr den damit verbundenen Herausforderungen zu stellen, diese auf Entwicklungs-Möglichkeiten und -Notwendigkeiten zu prüfen und solche zu fördern.

Es ist für Behandelnde wertvoll zu sehen, wie viele Betroffene ihre Krise im Rückblick auch als Chance und positiven Wendepunkt erleben. Auch jetzt ist für viele individuell klar: Nicht einfach zurück zur Zeit vor Corona: Einiges soll anders werden, mehr Ruhe und Konzentration statt Hektik, weniger Umweltschädigung, mehr echtes Miteinander….

So ergiebig dieser Blick auf das Individuum in Krisen ist: Für das Verständnis kollektiver Reaktionen auf Gross-Ereignisse geht es nicht ohne einen Blick auf das Kollektiv. Die Geschichte hat primär wenig Ermutigendes zu zeigen: In Krisen kam es häufig zu Radikalisierungen, zu sozialen Spannungen, zum Kampf gegen Randgruppen als Sündenböcke. Doch es zeigt sich auch viel Beeindruckendes: wie in und nach Krisen, beispielsweise nach Kriegen, Wiederaufbau, neue Solidarität und fruchtbare Entwicklungen möglich wurden. Ein solches engagiertes Zupacken, eine vorwärts orientierte positive Krisenbewältigung tun auch jetzt Not.

Wir können und sollen in und nach der Krise die Solidarität mit Hauptbetroffenen stärken und zugleich Veränderungen einleiten, neue und solche, die an sich schon länger anstehen, mit Engagement und mit Vertrauen in unsere Kraft, das Ganze miteinander zu bewältigen. So kann aus dieser Krise ein Wendepunkt, eine Chance werden – für alle. Packen wir es an.

*Hanspeter Flury ist Chefarzt der Klinik Schützen Rheinfelden und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH


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