Telefonseelsorge 143: Freiwillige sind gefordert
01.05.2020 FricktalPsychische Gesundheit leidet unter den Corona-Massnahmen
Angst, Einsamkeit, Überforderung – vielen Menschen machen das Coronavirus und die strengen Massnahmen zu schaffen. Bei «Telefon 143 – Die Dargebotene Hand» suchen doppelt so viele Personen wie normal ein offenes Ohr für ihre Sorgen. Ein freiwilliger Mitarbeiter aus dem Fricktal gibt einen Einblick in seine Beratungstätigkeit.
Karin Freiermuth
Es gibt kaum ein Telefongespräch, in dem es zurzeit nicht um das Coronavirus geht. Doch David bleibt stets geduldig und hört sich die Nöte und Probleme aller Personen an, welche die Telefonnummer 143 wählen. David ist ein freiwilliger Mitarbeiter der Dargebotenen Hand Aargau /Solothurn-Ost – und heisst eigentlich anders. Seinen richtigen Namen gibt er aber nicht preis, da Anonymität beim Schweizer Sorgentelefon einen hohen Stellenwert hat, sowohl für die Mitarbeitenden, wie auch für die Anrufenden. Der Schutz von Anonymität ermöglicht es den Ratsuchenden, offen über persönliche Sorgen und Schwierigkeiten zu reden. Die Mitarbeitenden unterzeichnen beim Start ihrer Freiwilligentätigkeit eine Schweigepflicht-Vereinbarung.
«Das Telefon klingelt nonstop»
Alle Anrufe, die bei der Dargebotenen Hand eingehen, werden von Freiwilligen entgegengenommen – während 24 Stunden pro Tag, an 365 Tagen im Jahr. Auch Chat- oder E-Mail-Anfragen werden ausschliesslich von freiwilligen Mitarbeitenden bearbeitet.
Seitdem der Notstand in der Schweiz ausgerufen wurde, haben die Freiwilligen alle Hände voll zu tun: «Die Einsätze sind strenger. Das Telefon klingelt nonstop und auch die Chat-Beratungen sind sehr gefragt», sagt David. «Das Coronavirus und die damit verbundenen Massnahmen, Einschränkungen und Empfehlungen sind für uns alle ganz neu. Die Situation verunsichert sehr und löst Ängste aus. Betroffen sind insbesondere Alleinstehende, ältere Personen und Menschen mit einer Behinderung, die nicht verstehen, was jetzt los ist.» David erzählt weiter, dass nicht die körperliche Gesundheit im Fokus stehe. Vielmehr würden die Anrufenden unter der Einsamkeit und Isolation leiden, vor allem jene, deren strukturierter Alltag wegfällt.
Die Dargebotene Hand empfiehlt, gerade in Zeiten von Physical Distancing soziale Kontakte möglichst aufrecht zu erhalten, um mit dem Umfeld über Schönes, wie auch Belastendes zu reden. Für jene, die gerade niemanden haben, ist Telefon 143 eine der ersten Anlaufstellen. Laut David seien es auch häufig Existenzängste und Beziehungsprobleme, welche die Bevölkerung zurzeit belasten. «Man ist öfters zusammen, vielleicht sogar auf wenig Raum. Bis jetzt haben wir aber nicht festgestellt, dass die Anrufe wegen häuslicher Gewalt zugenommen haben. Diese Zahl bewegt sich exakt im Rahmen des Vorjahres.»
Anspruchsvolle Freiwilligenarbeit
David lebt im Fricktal, ist Mitte vierzig und beruflich zu 80 Prozent als Ingenieur in leitender Position tätig. Daneben engagiert er sich während 25 Stunden im Monat unbezahlt für Die Dargebotene Hand und absolviert die obligatorischen Weiterbildungen und Supervisionen. Seit rund fünf Jahren ist er als Telefonberater im Einsatz.
Auf diese Form der Freiwilligenarbeit ist er durch einen Radiobeitrag aufmerksam geworden: «Die Idee und die Arbeitsweise der Dargebotenen Hand haben mich sofort überzeugt. Da ich beruflich viel mit Menschen zu tun habe und ich mich in Seminaren im Bereich Selbsterfahrung und Beratung weitergebildet habe, traute ich mir zu, diese Arbeit in guter Qualität leisten zu können.»
Nachdem er seine Bewerbungsunterlagen abgeschickt hatte, begann ein mehrstufiges Verfahren, bei dem die gegenseitigen Erwartungen und Vorstellungen besprochen wurden. Später wurde geklärt, ob David die für das Engagement notwendigen Voraussetzungen erfüllt, beispielsweise: Persönliche Reife und Lebenserfahrung, positive Lebenseinstellung, psychische und physische Belastbarkeit, Einfühlungsvermögen, Respekt und Toleranz.
Danach absolvierte er eine neunmonatige Grundausbildung, in der Theorie, Praxis und Selbstreflexion zu gleichen Teilen unterrichtet werden. Die Freiwilligen der Dargebotenen Hand sollen in den Beratungsgesprächen eine unvoreingenommene, nicht wertende, sondern eine wohlwollende Haltung einnehmen. Das aufmerksame Zuhören ist dabei das Wichtigste. «Durch das Reden können die Anrufenden ihre Gedanken selber sortieren. Wir helfen ihnen dabei und weisen auf mögliche Ressourcen hin. Ratschläge hingegen sind Schläge – die versuchen wir zu vermeiden. In einer aktuellen Krise kann es allerdings hilfreich sein, wenn ein Gespräch etwas direktiver verläuft als in normalen Zeiten, zum Beispiel wenn es um den Tagesablauf, die Selbstorganisation und Disziplin geht.»
Emotionale erste Hilfe
Die Beratungsgespräche, die David zurzeit führt, sind besonders intensiv. So rief zum Beispiel ein Kellner völlig verzweifelt an, weil ihm durch die Schliessung des Restaurants von heute auf morgen nicht nur das Einkommen, sondern auch die Tagesstruktur weggebrochen ist. Auch ein alleinerziehender Vater meldete sich, der nicht wusste, wie er den Job im Homeoffice, die Betreuung seiner zwei Kinder und das Homeschooling unter einen Hut bringen kann, zumal die Grosseltern wegen der Empfehlungen des Bundesamtes für Gesundheit als gewohnte Unterstützung wegfielen.
Wie die Beratenden solch schwierige und traurige Gespräche verarbeiten können, lernen sie in der Ausbildung. «Die sorgfältige Reflexion der Beratung und meiner Rolle ermöglichen mir in aller Regel ein bewusstes Loslassen und Weglegen des Gespräches. Zudem kann ich mich jederzeit an meine Vorgesetzte, eine Psychologin, wenden», sagt David. Wie geht er damit um, wenn jemand Suizidabsichten äussert? «Unser Angebot konzentriert sich auf ‘Hilfe zur Selbsthilfe’. Wir handeln nicht, weder für noch gegen Anrufende. Da alles anonym abläuft, können wir keine anderen Stellen oder die Polizei mobilisieren. Betroffene berichten aber oft, dass ihre Suizidgedanken abnahmen und sie wieder Hoffnung schöpften, nachdem sie sich jemandem anvertraut hatten. Wenn man über seine Gedanken spricht, läuft man weniger Gefahr, dass sich diese verselbständigen und es zu einem Suizidversuch kommt. Reden kann so Leben retten. Darüber hinaus nennen wir mögliche Anlaufstellen.»
Genau diese vielen Herausforderungen gehören zu den Gründen, warum David sein freiwilliges Engagement gerne ausübt. Insbesondere die Vielseitigkeit der Gespräche gefällt ihm: «Wenn ich das Telefon abnehme, habe ich keine Ahnung, um was es geht und welche Erwartungen Anrufende haben. Mich dieser Herausforderung jedes Mal neu zu stellen, ist für mich eine sehr reizvolle Aufgabe.»
Im Weiteren schätzt er die Kontakte und den Austausch mit den anderen Mitarbeitenden und dem Führungsteam. Aktuell arbeiten 48 Freiwillige bei der Regionalstelle Aargau /Solothurn-Ost. Trotz der deutlich gestiegenen Anzahl Beratungsgespräche mag das Team den Arbeitsanfall gut stemmen. Auch sind fast alle Freiwilligen trotz des Coronavirus im Einsatz. Lediglich zu Beginn gab es einige Unsicherheiten, wie die Empfehlungen für die Risikogruppen umgesetzt werden können und welche Vorkehrungen getroffen werden müssen.
Sich etwas von der Seele schreiben
Alle Mitarbeitenden sind in den Büroräumlichkeiten der Geschäftsstelle Aargau/Solothurn Ost tätig. David arbeitet sowohl am Telefon wie auch in der Chat-Beratung. Letztere erreicht Menschen, die Hemmungen haben, direkt 143 zu wählen. Manchen ist ein telefonischer Austausch zu intim, da die Stimme Teil der Persönlichkeit ist und bereits etwas preisgibt.
Wer sich für eine telefonische Beratung entscheidet, spricht in der Regel zwischen zwanzig und dreissig Minuten mit der Dargebotenen Hand. Gemäss David würden sich manche Hilfesuchende immer wieder melden. «Dabei darf keine Abhängigkeit entstehen. Wichtig ist, dass die Betroffenen ein Umfeld haben, mit dem regemässig persönliche Kontakte möglich sind.»
Rund ein Viertel aller Gespräche führen die Mitarbeitenden in der Nacht; für David eine Herausforderung: «Am anspruchsvollsten sind für mich Beratungen in der Nacht zwischen zwei und fünf Uhr. Da ich ja nicht regelmässig in der Nachtschicht arbeite, kommt in diesem Zeitfenster manchmal grosse Müdigkeit auf, und es kann darum sein, dass Geduld und Empathie nicht von derselben Güte sind, wie zu den Tageszeiten.»
Nicht viele Personen aus Davids sozialem Umfeld sind über sein Engagement bei der Dargebotenen Hand informiert. Nur der Familie und einigen Freunden ist es bekannt. «Sie reagieren durchwegs positiv auf diese Form der Freiwilligenarbeit.» Der tatkräftige Einsatz von David und den anderen Freiwilligen hätte in diesem Jahr besonders gewürdigt werden sollen, denn die Regionalstelle Aargau/Solothurn Ost der Dargebotenen Hand gibt es seit genau sechzig Jahren. Doch wegen des Coronavirus mussten alle Feierlichkeiten abgesagt werden, auch der Dankes-Anlass für das Freiwilligen-Team.