«Geteiltes Leid verbindet»

  29.03.2020 Fricktal

Der Soziologie-Professor Ueli Mäder im Interview

Wie wirkt sich die Corona-Krise auf das Zusammenleben der Menschen aus? Ueli Mäder, emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Basel, gibt Auskunft.

Janine Tschopp

NFZ: Herr Mäder, wie pflegen Sie Ihre sozialen Kontakte im Moment?
Ueli Mäder:
Ich pflege meine sozialen Beziehungen jetzt etwas einfacher, aber umso bewusster. Ich tausche mich gerne mit meiner Frau aus und freue mich über Telefongespräche oder Mails mit unseren Kindern und weiteren Personen.

Was passiert mit den Menschen seit der Bundesrat den Notstand ausgerufen hat und sie sich weder öffentlich noch privat treffen dürfen?
Solche Einschränkungen können verunsichern. Die einen arrangieren sich recht gut damit und begegnen vielleicht mehr sich selbst. Andere fühlen sich alleinegelassen. Denn jetzt, wo es ihnen besonders wichtig wäre, andere zu treffen, ist das kaum mehr möglich.

Was raten Sie diesen Menschen?
Ich empfehle ihnen, selbst aktiv zu werden. Jemandem zu telefonieren, einen Brief zu schreiben oder einen Kuchen zu backen.

Wie empfinden Sie persönlich die aktuelle Situation?
Ich habe die Situation zuerst eher auf die leichte Schulter genommen. Jetzt berührt sie mich sehr und gibt mir zu denken. Persönlich bin ich ja enorm privilegiert. Aber was passiert mit all den Menschen, die auf der Flucht oder sonst bedrängt sind. Zum Beispiel, weil sie zu wenig Nahrung haben, oder das Wasser für die Hygiene zu knapp ist.

Wie geht es Menschen, die aufgrund der aktuellen Situation nicht mehr arbeiten dürfen? Zum Beispiel Künstler, Friseure, Gastronomen oder Ladeninhaber?
Einige von ihnen sind wohl in ihrer beruf lichen Existenz gefährdet. Das beschäftigt sie und macht ihnen Angst. Einzelne fühlen sich auch doppelt benachteiligt, weil sie sonst schon knapp bei Kasse sind und keine Reserven haben. Trotzdem reagieren viele sehr kreativ. Sie organisieren sich auch mit anderen Betroffenen zusammen. Sie entwickeln gemeinsame Angebote und bieten diese online an. Das ist erfreulich. Wichtig ist, dass wir Kundinnen und Kunden das auch unterstützen.

Viele Menschen halten sich jetzt, ausser zum Einkaufen, nur noch in den eigenen vier Wänden auf. Wie wirkt sich das auf das Zusammenleben in den Familien aus?
Wenig Platz zu haben, das belastet viele Familien. Vor allem, wenn die Wohnungen ringhörig sind, jemand krank ist und die Kinder ruhig sein sollten. Die räumliche Enge ist auch für jene alten Menschen schwierig, die ohnehin oft einsam sind oder jetzt im Heim alleine im eigenen Zimmer essen müssen.

Haben Sie Tipps für das Zusammenleben in der Familie?
Wichtig ist, achtsam mit Nähe und Distanz umzugehen. Zusammen zu spielen oder gemeinsam einen Film anzuschauen und darüber zu diskutieren, das verbindet und heitert vielleicht auf. Aber es braucht auch Zeiten, in denen alle etwas für sich machen und andere respektvoll in Ruhe lassen. Wichtig ist zudem, dass alle ihren Platz haben, sich einbringen können und einander gut zuhören.

Viele Eltern haben für ihre Kinder entschieden, dass sie nicht mehr mit anderen Kindern (oder auch nur mit einem Kind) abmachen dürfen. Wie finden Sie das?
Ich finde es gut, Abmachungen miteinander zu vereinbaren, mit den Kindern und Nachbarn zusammen. So ist es auch möglich, den Kindern die gesundheitlichen Empfehlungen der Fachleute zu vermitteln. Zum Beispiel, sich nur in ganz kleinen Gruppen zu bewegen.

Entstehen durch die Isolation neue Formen der Verbundenheit zwischen den Menschen?
Ja, das kann selbst bei einem unfreiwilligen Rückzug so sein. Geteiltes Leid verbindet. Oft fördert es das solidarische Miteinander, manchmal auch das egoistische Gegeneinander oder das selbstbezogene Nurfür-sich-Denken.

Gibt es positive Seiten, welche das isolierte Leben mit sich bringt?
Oft nehmen wir erst im Getrenntsein richtig wahr, wie wichtig Beziehungen sind und was für uns im gewöhnlichen Alltag so selbstverständlich ist. Wir erwarten, dass alles wie am Schnürchen läuft und immer super klappt. Aber eben, das ist nicht selbstverständlich. Oft tragen Menschen im Hintergrund viel dazu bei. Das müssen wir wieder mehr wertschätzen.

Was passiert, wenn die Corona-Krise vorbei ist? Ändert sich etwas bei unserem sozialen Verhalten?
Hoffentlich. Wir werden vermutlich das gesundheitliche Wohl mehr schätzen und uns auch öfters fragen, was wirklich wichtig ist im Leben. Geht es darum, irgendwelchen Ramsch zu produzieren und alles immer schneller drehen zu lassen? Wir sind oft sehr wachstumsgläubig. Es ist gut, wenn wir uns überlegen, wie wir unser Leben und Wirtschaften möglichst fair und sinnvoll gestalten können.

Worauf freuen Sie sich am meisten, wenn die Krise vorbei ist?
Ich freue mich auf ausgiebige Wanderungen mit Übernachtungen irgendwo, auf das Fussball spielen und darauf, alte Freiheiten neu zu erleben.

Welche Freiheiten im Speziellen meinen Sie?
Jetzt sind die Grenzen zu. Das schmerzt. Wieder ennet dem Rhein spazieren zu können, schon das ist für mich so eine kleine, alte Freiheit.


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