Unsere Weihnachtsgeschichte für Sie
21.12.2019 Fricktal
Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus
Eine Weihnachtsgeschichte
Ronny Wittenwiler
***
Sie sassen vor dem Haus auf ihrem Bänkchen. «Komm mir jetzt aber nicht damit, du hättest deine Brille woanders gekauft.» Seine Stirn legte sich in Falten: «Wie bitte?» – «Angenommen, du könntest dein Leben noch einmal leben. Würdest du alles genau gleich machen?» Er lächelte: «Ist das nicht diese Werbung aus den Neunzigern?» – «Ich glaube, so alt ist sie nun auch wieder nicht. Komm’, sag schon!» Ihr zugewandt, flüsterte er ins Ohr: «Ich hätte dich damals vor fünfzig Jahren nicht heiraten sollen… ich hätte das schon viel, viel früher tun sollen.» Mit zittrigen Händen zog sie ihrem alten Kavalier die Ohren lang, spitzte die Lippen und gab ihm einen Kuss.
Noch in derselben Nacht stand der Krankenwagen in der Strasse. Der dritte Schwächeanfall innerhalb eines Jahres. «Das Herz», sagten ihm die Notärzte. Sie konnten nichts mehr tun. Kein Blaulicht, keine Hektik, als es vorbei war. Das Motorengeräusch wurde leiser und leiser und als der Krankenwagen zurück in die Dunkelheit verschwand, legte sich unendliche Stille über die Strasse. Venedig hatte sie nie gesehen.
**
Das kleine Mädchen sass auf seinem Schoss. «Grossvater, wie kommen eigentlich Elefanten in den Himmel?»
Wie gut diese unbekümmerte Frage tat. Können wir Ihnen einen Gefallen tun? Was ist genau passiert? Wie geht es Ihnen? Gewiss, er schätzte die grosse Anteilnahme der Leute. Alle mochten seine Frau. Mit der Zeit nahmen die Beileidsbekundungen aber etwas Erdrückendes an, sie erinnerten ihn ausnahmslos an das Sterben seiner Frau, dabei, so dachte er, sollten sich die Menschen doch daran erinnern, dass sie gelebt hatte.
«Grossvater! Hörst du mir überhaupt zu?» Sachte stupste er jetzt dem Mädchen die Nase: «Über die Sternenleiter, wie alle anderen auch. Ich glaube, so kommen Elefanten in den Himmel.» Die Kleine kratzte sich am Kinn und gab das Bild eines von letzten Zweifeln geplagten Sprengmeisters kurz vor Ausführung des Auftrags: «Wenn das nur gut geht.» Neunmalklug schob sie nach: «Denk dran: Elefanten sind sehr schwer.»
**
Jeden Abend schien eine Kerze für seine Frau und er dachte an all die Jahre voller Glück.
«Niemals, ich bitte dich», sagte sie und die Bäume im Spätherbst verloren langsam ihre Blätter. «Wir dürfen uns nicht beklagen. Das Leben meinte es gut mit uns beiden. Vergiss das nicht. Niemals, ich bitte dich, und was wäre nur der Himmel ohne seine Sterne?»
**
«Am Fünfundzwanzigsten, richtig?» Angestrengt versuchte er, eine leise Konsternation zu kaschieren. «Was soll ich sagen», bemühte sich seine Tochter. Sie, ihr Mann, ja selbst die Kleine – alle wussten sie Bescheid. Gerade deshalb fiel es ihr so schwer: «Was soll ich sagen. Heiligabend ist dieses Mal… ist dieses Mal halt etwas schwierig.» Dann umarmte sie ihren Vater und – bevor sie ging: «Hab’ ein wenig Vertrauen.»
**
So gut es einem alten Mann wie ihm gerade noch gelingen sollte, kniete er nieder und legte rote Rosen auf das von Schnee bedeckte Grab. «Dinge ändern sich scheinbar», sagte er leise. «Wir sind erst morgen eingeladen.»
Dann ging er wieder allein nach Hause. Er hatte ja keine Ahnung davon, was seine Frau über ihr eigenes Sterben hinaus ihm fürs Leben noch mit auf den Weg geben würde, heute, in dieser Heiligen Nacht.
**
Er stand in der Küche und schaute durchs Fenster nach draussen. 20 Uhr, und die Welt in seiner Strasse – sie war menschenleer. Doch dann fuhr ein Auto die Strasse entlang, wurde langsamer und hielt direkt vor dem Haus. Einen Augenblick später klingelte es.
Fortsetzung an Heiligabend in der Dienstags-Ausgabe NFZ.