«Man kann niemandem vorschreiben, wo er einzukaufen hat»

  09.11.2019 Möhlin, Wirtschaft

Der angekündigte Rückzug des Möhliner Schuhgeschäfts Frank sorgte vor rund sechs Wochen für Betroffenheit. Die NFZ hat mit Geschäftsführerin Nicole Frank gesprochen. Ein Interview über das Grosse und Ganze innerhalb der Krise des Detailhandels und über den Mut, der eigenen Geschichte ein Ende zu setzen.

Ronny Wittenwiler

NFZ: Nicole Frank, Dorf und Detailhandel, passt das überhaupt noch zusammen?
Nicole Frank:
Immer weniger.

Wer will schon durch ein verlassenes Dorf flanieren.
So ganz verlassen sind wir nicht in Möhlin. Die Leute sind aber heute mobiler. Es herrschen andere Strukturen innerhalb einer Familie, die das Einkaufsverhalten beeinflussen.

Inwiefern?
Vor zehn oder fünfzehn Jahren waren Frauen weniger oft berufstätig. Oder statt zwanzig, dreissig Prozent arbeiten sie heute vielleicht achtzig Prozent. Dinge des täglichen Lebens werden so vermehrt auf dem Weg zur Arbeit oder von der Arbeit erledigt.

Oft wird der Onlinehandel für die Krise verantwortlich gemacht.
Vor zehn Jahren war das Onlinegeschäft zumindest in der Schuhbranche wenig spürbar. Das kam erst in den letzten fünf Jahren verstärkt auf. Aber ich gebe zu bedenken: Digitale Gadgets wie Handys, Tablets, Computer sind heute enorm wichtig geworden. Ein Grossteil des verfügbaren Budgets investiert eine Familie dafür; Geld also, das früher öfters in Schuhe und Kleider investiert wurde.

Also kaufe ich lieber einen günstigen Schuh in Deutschland?
Auf dem Produkt selber ist die Differenz gar nicht mal so gross. Bei einem klassischen Damen- oder Herrenschuh sind das vielleicht zehn oder fünfzehn Prozent. Das war aber vor zehn Jahren nicht anders.

Es lockt die Kursdifferenz.
Die Schweiz ist nicht ohne Grund ein reiches Land. Wir sind nun mal sparsam. Ob man es nötig hat oder nicht, der Schweizer hat Freude, gewisse Dinge zu günstigen Preisen zu bekommen.

Die fixen Lebenshaltungskosten sind in der Schweiz derart hoch, da gibt es doch Haushalte, die sich bereits nach der Decke strecken müssen, wollen sie sich mit Schuhen für die ganze Familie eindecken.
Es gibt immer Familien, die viel genauer aufs Budget achten müssen als andere. Eine Tatsache ist aber auch, dass es hierzulande günstige Anbieter gibt.

Sie gehören nicht zu den günstigen Anbietern.
Wir bewegen uns im mittleren Segment. Bei uns kostet auch ein Kinderschuh etwas Geld, das ist richtig. Aber einen solchen bei uns im Ausverkauf zu kaufen ist oft günstiger, anstatt irgendwo anders gleich drei billige Exemplare kaufen zu müssen, weil jeder von ihnen nicht mal einen Winter lang hält.

Wird das oft vergessen?
Ich bin die falsche Person, um das zu beurteilen. Aber nochmal: Mir ist bewusst, dass es Familien in der Schweiz gibt, die ganz stark aufs Budget achten müssen. Aber es ist nicht so, dass diese Tatsache allein dafür verantwortlich ist, dass es dem Detailhandel schlecht geht. Nirgends liegt so viel Sparkapital auf den Banken wie in der Schweiz.

War ein Schuh im Vergleich zu heute früher nicht teurer?
Richtig. Artikel im Modebereich sind, genau wie Schuhe, eine Wegwerfware geworden. Vor zehn oder fünfzehn Jahren waren Schuhe erheblich teurer. Das sollte man vor dem Hintergrund gestiegener Lebenshaltungskosten auch nicht vergessen.

Nachdem Sie die Geschäftsaufgabe bekanntgegeben hatten, waren Bedauern und Empathie in ihrer Summe enorm – so, als würde es einen Rückgang der Kundschaft gar nicht geben.
Fakt ist: Die Gewohnheit, in einem Laden einzukaufen, ist für jüngere Konsumenten nicht mehr gegeben.

Dann ist die auch in sozialen Medien geführte Diskussion unter dem Motto «Kauft lokal!» eine scheinheilige?
Ich kann niemandem vorschreiben, wo und wie er einzukaufen hat, schon gar nicht will ich anprangern.Doch ein Grossteil jener jungen Generation, die sich gerade mit ihren Freitagsdemonstrationen für eine Welt mit weniger Ressourcenverbrauch stark macht, kauft übers Internet ein. Würde diese junge Generation künftig agieren, wie sie es nun auf der Strasse verlangt, dann müsste der Detailhandel wieder eine reale Chance haben: Das wäre dann nämlich die neue Stammkundschaft, die bewusst lokal einkauft, damit Ressourcen schont und faire Arbeitsbedingungen unterstützt. Wir aber haben die Zeit nicht mehr, um auf diesen Wandel zu warten. Sofern er überhaupt einsetzt.

Im Vorfeld unserer Anfrage für dieses Interview sagten Sie, es solle keinesfalls ein Gespräch werden, das den Eindruck erwecke, man wolle auf die Tränendrüse drücken. Trotzdem: Wie belastend ist die Situation?
Wenn du als Arbeitgeber vor deine Mitarbeiter stehen und ihnen kündigen musst, weil wir so nicht weitermachen können, dann ist das eine grosse Belastung. Aber mit der Entscheidung grundsätzlich haben wir nicht gehadert.

Weil es die richtige war?
Ja. Wir sind überzeugt, alles in unserer Macht Stehende versucht zu haben, dass es nicht soweit kommt. Es war jetzt ein Entscheid aus Vernunft.

In der Mitteilung hiess es: «Wir haben den Mut, jetzt aufzuhören.»
Wieviel Mut brauchte es?

(Überlegt). Ich habe mich lange gefragt, ob es mutig war. Jetzt bin ich überzeugt: Ja, das war es. Wir stehen nicht kurz vor unserer Pension, sondern müssen weiterhin unseren Lebensunterhalt verdienen, uns eine neue Arbeit suchen. Wir fangen quasi ein neues Leben an und wollen das hier ordentlich zu Ende bringen.

Ist es auch der Mut, über Probleme zu sprechen, in denen der Detailhandel steckt?
Ich glaube schon. Hinstehen und erklären: Die Dinge haben sich so gewandelt, dass wir für uns keine Zukunft mehr sehen.


Kein Einzelfall

Im Frühjahr 2020 schliessen die Schuhhäuser Frank in Möhlin, Frick und Sissach sowie das Schuhhaus Storchen in Aarau. Das teilte die Unternehmerfamilie Frank aus Möhlin Ende September mit. Nicole Frank führt gemeinsam mit ihrem Bruder Oliver die Ladenkette in dritter Generation. Obschon finanziell auf stabilem Fundament stehend, sei dieser Schritt wegen des Strukturwandels mit ausbleibender Kundschaft und erodierenden Umsätzen unvermeidlich, hielt die Familie Frank fest. Nicole Frank sagt zur NFZ: «Wir haben in den letzten fünf Jahren 2000 Paare weniger an Lager, weil weniger Kunden kommen. Dennoch müssen wir den Lagerumschlag hochhalten, damit wir neue Ware kaufen können und für den Kunden attraktiv bleiben. Das ist uns gelungen, aber mit den immer weniger Kunden verdienen wir zu wenig Geld. Es bleibt eine schwarze Null. Aber als Geschäft müssen wir auch Geld verdienen, um Investitionen tätigen zu können.»

Die Krise in Zahlen

Es sind Probleme, die sich landauf, landab bemerkbar machen, der Fall Frank ist kein Einzelfall. «In der Schweiz wird im Detailhandel heute weniger verkauft als vor zehn Jahren. Konkret sind es rund fünf Milliarden weniger», schrieb jüngst die Zeitung «Schweiz am Wochenende». Besonders den Bereich Non-Food trifft es hart, und dort am härtesten die Bekleidungs- und Schuhbranche. «In der Mode ging in nur neun Jahren jeder vierte Umsatzfranken verloren. Umgerechnet sind das etwa 2,5 Milliarden Franken.» Und gemäss Zahlen aus dem Retail Atlas Schweiz hätten in nur einem Jahr 265 Kleiderläden aufgegeben. Bei den Schuhläden seien es 68 Filialen, das entspreche rund neun Prozent.
«Bis zur Schliessung aller Ladengeschäfte im Frühjahr 2020 herrscht weiterhin Normalbetrieb», teilt die Familie Frank mit. (rw)


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